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Spuren der anderen Welt in den Spätwerken Karl Mays: Zur theologischen Rehabilitierung des Dichters


"Warum habe ich Karl May gelesen, jahrelang? Weil ich mir rettbar vorkommen wollte, ob im Balkan oder in den Händen von Indianern."

   So meinte der Schriftsteller Martin Walser in einem STERN-Interview.1 Tatsächlich ist die 'Rettung' das zentrale Motiv Karl Mays. Dem Autor selbst wie dem Leser wird, immer wieder und in allen Variationen, suggeriert: 'Ich bin noch zu retten!'

   Dies schließt nun freilich nicht aus, daß der Erfinder Old Shatterhands und Kara Ben Nemsis - bei aller Kühnheit der Bilder und Einfälle - zugleich auch ANGST hatte: Angst, daß die Rettung nicht möglich sei.

   In seinen Betrachtungen zu Karl Mays Alterswerk hat der Philologe Jürgen Hahn einen wichtigen Gesichtspunkt herausgearbeitet: In Mays Erzählungen, speziell in der Alterspoesie, "spiegelt sich die Angst"2 - des Verfassers und seiner ganzen Epoche, ja, wie wir hinzufügen dürfen, des Menschengeschlechts überhaupt. Mays Wüsten, seine Abgründe, seine Totenstädte und seine "Unterweltskanäle, deren Überwölbung schon ein Pistolenschuß zum Einsturz bringen kann",3 sind archetypische Bilder für die Urängste des Menschen. Bedroht und geängstigt von den Mächten des Todes, von qualvoller Schuld, von äußeren Zwängen, von innerer Enge und letzter Verlassenheit, sehnt sich der Mensch - wie auch May in seinen Hoffnungsvisionen - nach Erlösung, nach Befreiung von den Mächten des Untergangs.

   Die Angst ist ambivalent. Sie gehört, einerseits, als wesentliches Existential: als Angst vor dem Abgrund, als Angst vor dem Liebesverlust und der eigenen (oder fremden) Schuld, zum menschlichen Sein. "Ein Mensch ohne Angst", schrieb Dorothee Sölle, "ist ein verstümmeltes Wesen, das sich selbst zu sehr verachtet, als daß es Angst um sich haben könnte."4 Doch andrerseits hindert die Angst - als fehlendes Urvertrauen, als metaphysische Angst vor dem Nichts5 - den Menschen an seiner Entwicklung, am Ergreifen seiner ureigensten Möglichkeiten.

   "Es gehört", so Jürgen Hahn,


zu den Paradoxien der Angst, daß sie menschliches Dasein in seiner Entfaltung begründen und vertiefen, aber auch einschränken oder zunichte machen kann. Im positiven Sinn ist sie ein Antrieb zur Wandlung, ein Impuls, in der Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt neue Positionen zu beziehen; im negativen Sinn eine Schranke, die uns [...] einschränkt und lähmt. Beide Wirkungen der Angst können in Mays Spätwerk exemplarisch beobachtet werden: Aufbruch zu neuen Ufern [...] und Erstarrung in überlebten Formen, aus Furcht, eine zahlreiche Lesergemeinde zu verlieren. Im ganzen hat aber doch die Komponente der Angst, die zur Wandlung befähigt, das Übergewicht.6


   Wie ging Karl May, als Literat, nun um mit der eigenen Angst und den Ängsten der Menschheit? Hat er sich selbst einen Himmel konstruiert, "um die Unerträglichkeit des Daseins zu mildern"?7 Sind die Rettungsmotive des Spätwerks - die Visionen des blinden Sehers (Am Jenseits), das befreite Gebet (Silberlöwe III/IV), die Öffnung des Paradieses (Friede auf Erden), die Überwindung des Drachen durch die Liebe der Frau (Babel und Bibel), die Engel in der Wüste (Ardistan und Dschinnistan), die Traumflüge des jungen Adlers und die Rückkehr der verlorenen Medizin (Winnetou IV) - nur Opium für den Dichter und seine Leser? War es, als Entwurf einer anderen Welt, zu schwer, was May


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"sich da aufhalste"?8 War der alternde May ein verstörter, ein irrsinniger "Entlastungstechniker", der - "als Konstrukteur eines metaphysischen Obdachs von bizarrer Architektur"9 - nur künstliche Paradiese schuf, die nicht halten, was sie versprechen, und deren Stützen, in brüchiger Statik, den Einsturz vorausprogrammieren?

   Jürgen Hahn, der solche Vermutungen - zunächst jedenfalls - nahelegt, räumt am Ende seiner Betrachtung doch ein: Die religiöse Sinngebung, die theologische Deutung der gesamten Wirklichkeit, die May in seinen Spätwerken anbietet, verdient keinen Hohn. Denn: Wer, wie May,


Gerechtigkeit erstrebt, aber im realen Geschichtsverlauf ständig erlebt, daß sittlich Handelnde Opfer von Verfolgung und Vernichtung werden, kann nur dann der Verzweiflung entgehen, wenn er an eine übermenschliche, reuende Instanz glaubt, die das erlittene Leid ausgleicht und heilt. Auch der Entwurf einer künftigen gerechten Welt wird sinnlos, wenn man nicht gewiß sein kann, daß das im Laufe der vorhergehenden Geschichte erlittene Leid aufgehoben wird. Sonst zehrt die befreite Menschheit von ungesühnten Opfern, was dem Sinn einer gerechten Welt widerspricht.10


   Daß jede Wunde geheilt, alles Verlorene gerettet und jegliches Leid - am Ende - verklärt wird, ist die Grundüberzeugung (oder richtiger: die Hoffnung, die unendliche Sehnsucht) Karl Mays. Auch und besonders im Spätwerk ist, so Hahn, - das Gedächtnis der akkumulierten Leiden' eines Autors und seiner Epoche auf selten eindrückliche Weise eingegangen, [...] indem es diesem Autor gelingt, aus seinen Fiktionen 'Wahrheit zu kondensieren'". So gewinnt sein Werk "einen humanen Rang; und dieser humane Rang berechtigt es [...], Gerechtigkeit einzuklagen. 'Gerechtigkeit für Karl May!'" Der Dichter .wartet in gewissem Sinne bis heute darauf - trotz seiner großen Lesergemeinde; denn gerade in den Fan-Clubs hat die Gerechtigkeit einen problematischen Stand, weil sie nicht 'Liebe mit sehenden Augen', [...] sondern oft blinde Liebe ist."11

   Sind Mays Hoffnungsvisionen, so könnte gefragt werden, der Ausdruck eines naiven Gemüts? Der Schriftsteller scheint dies selbst zu bejahen: "Ich blieb ein Kind für alle Zeit"!12 Er scheut sich nicht, seine 'Einfalt' zu bekennen: die "mir angeborene Naivität, die ich selbst heute noch in hohem Grade besitze."13 Doch der Wiener Journalist Paul Wilhelm fand gerade diese 'Naivität', in seinem Nachruf auf May, besonders interessant und sympathisch.14 Auch Jürgen Hahn lobt Mays innere Einstellung: als 'zweite", bewußte und "kalkulierte Naivität".15 Oder anders gesagt: Als durch Leiden gereiftes Vertrauen ist Mays psychische Verfassung zu begreifen, als ERLÖSTE Angst, die - durch bitterste Enttäuschung und tiefstes Dunkel hindurch - ein helles Licht und einen rettenden Standpunkt gefunden hat.

   Diesen Standpunkt fand May im Glauben "an Gott, den [...] Schöpfer aller Himmel und aller Erden"; er fand ihn im Glauben "an die himmlische Liebe, die zu uns niederkam"; er fand ihn, konkret, im Glauben an den "Weltenheiland", der - am Kreuz - sich selbst "in die Menschheitsqual versenkte" und so zum "Erlöser" wurde.16

   Einer bestimmten christlichen Konfession sich beizuzählen, lehnte May zwar ab; er "ist weder Katholik noch Protestant, aber er ist Christ".17 Er war, wie wir sehen werden, sehr aufgeschlossen auch für nicht-christliche Religionen und auch für die Mythen der Völker; doch seine Heimat blieb der biblische Glaube, die alt-[ , I-R] und neutestamentliche Offenbarung, das christliche Daseinsverständnis.

   An Max Dittrich hatte May, um 1903/04 vermutlich, geschrieben:


Ich kam von Nazareth [...] wiederholt nach dem See Genezareth. Ich sah die Stätten im Osten, von denen Bethsaida, Chorazin, Gamala und Amatha verschwunden sind. Und wieviel fand ich noch [...] von Kapernaum, Magdala, Arbela und alle den anderen? Nur Tiberias ist übrig; was aber ist sie heute? Nur der lebt und ist sich gleich geblieben, der einst dort von dem Vater lehrte, dessen Kinder alle, alle Menschen sind. Genau so wie mit diesen biblischen Orten, ganz so wird es auch


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mit Euern konfessionellen Absonderungen sein. Wer nach wieder zweitausend Jahren um die Ufer des Christentums wandert, wird von dem allen nichts mehr finden, als höchstens ein auch schon ruinenhaftes Tiberias. Der aber, der sich einst den Weg und die Wahrheit nannte, der wird noch sein, was er war: Jesus Christus gestern und heute und in alle Ewigkeit! An diesen glaube ich, und an diesen halte ich mich, an ihn und keinen andern! Denn wenn einst jemand kommt, vielleicht der Vater selbst, und nach mir fragt, so wünsche ich, daß ich gefunden werde. So nämlich will's der Herr und Vater haben! Also, ich bin Christ, nur Christ! Haben Sie etwas dagegen?18


   In der Botschaft Jesu und den Hoffnungsbildern des christlichen Glaubens fand May den festen, die Angst, das Gefühl der Verlassenheit überwindenden Halt: die rettende Liebe, die den menschlichen "Trieb zu Gott" und den "Trieb zum Geschöpf" in eine "einzige" Bewegung vereint.19 Wie er an Willy Einsle (seinen 'Adoptivneffen') schrieb, ist dieser "Weg zur Seligkeit" - seit Jesus Christus "sich selbst den 'Weg' genannt hat und es uns auch geworden ist" - zwar ein Weg, den "jeder für sich, aber dennoch Keiner allein"20 zu gehen hat!

   Den 'Weg zur Seligkeit', zur Überwindung der Angst, zur rettenden Liebe, hat May in seinen - literarisch anspruchsvollen - Spätwerken (ansatzweise aber schon in den früheren Reiseerzählungen und, in grellen Farben, den Kolportageromanen) beschrieben: nicht - wie ein Philosoph oder Theologe - in abstrakten Begriffen, sondern - wie eben ein Dichter - in poetischen Bildern. Arno Schmidt sah es so: In Mays Alterswerk hat "ein Befähigter der - vom künstlerischen Standpunkt aus recht unergiebigen und nicht ernstlich konkurrenzfähigen - 'Niederen Mythologie' des Christentums bemerkenswert aufgeholfen".21

   Das klingt, im Blick auf die Quellen des Christentums, nicht gerade verständig. Denn kunstvolle Werke und hohe Poesie sind, zum größten Teil, auch die biblischen Schriften und die Texte der 'Kirchenväter'. Richtig ist aber doch: Biblische, vor allem prophetische, Symbolik hat Karl May in neue Parabeln, in höchst eigenartige, überaus leuchtkräftige und, zugleich, äußerst provozierende Bilder übersetzt.

   Die Exegese, die deutende Aufarbeitung dieses literarischen Spätwerks ist, so Claus Roxin im Jahre 1976, "bis heute nur im Ansatz gelungen"; es "werden noch mehrere Germanistengenerationen daran zu arbeiten haben. Das ist auch keine an banale Esoterik vergeudete Mühe, sondern eine lohnende Arbeit, wenngleich sich dies noch nicht weit genug herumgesprochen hat."22

   Die Interpretation des Mayschen Alterswerks - eine "lohnende Arbeit" für Germanisten? Gewiß. Aber nicht nur für sie! Auch Psychologen und Theologen können auf diesem Feld - auch in Zukunft (nachdem zu Mays Spätwerk inzwischen ja viele und aufschlußreiche Untersuchungen publiziert wurden) - eine interessante Aufgabe wahrnehmen!

   Die POETISCHE Kraft der Mayschen Altersromane ist unter Kennern heute kaum mehr umstritten. Doch ihre BOTSCHAFT wird noch immer - von manchen Interpreten - als frömmelnder Unsinn, als okkulte und verblasene Esoterik betrachtet.23 Für May jedoch war der Inhalt, die (anthropologische und spirituelle) AUSSAGE seiner Bücher noch wichtiger als die literarische Form. Da Form und Gehalt eines poetischen Werkes einander entsprechen sollen, muß - wenn der späte May: der prophetische Dichter, der religiöse Visionär literarisch überleben soll - zur "seltsamen Rehabilitierung des Großschriftstellers"24 die künstlerische UND "theologische Rehabilitierung"25 seiner Spätwerke hinzukommen. Nur so kann ihre Bedeutung genügend herausgestellt und gewürdigt werden.

   Den Spuren der Transzendenz, den Zeichen der anderen Welt, den Leuchtzeichen der Ewigkeit in Mays Alterswerken zu folgen und diese Signale zu interpretieren, ist das besondere Anliegen der folgenden Kapitel. Daß - wie Roxin dem Verfasser bestätigt - "hin-


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ter dem überlieferten Klischee von Mays verschwommen-eklektischem Mystizismus das ganz andere Bild eines theologisch klar und progressiv denkenden religiösen Visionärs sichtbar"26 wird, soll erhellt und verdeutlicht werden. Nicht die "ideologische Vereinnahmung",27 sondern die theologische Rehabilitierung Karl Mays und seines Spätwerks ist also das Ziel der folgenden Ausführungen.



Anmerkungen


1Zit. aus der Illustrierten STERN. Heft 36 (29.8.1991), S. 126 - Zu May und Martin Walser vgl. auch Old Shatterhand läßt grüßen. Literarische Reverenzen für Karl May. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Christian Heerrnann. Berlin 1992, S. 176.
2Jürgen Hahn: "Da klebte ich zwischen Himmel und Erde". Betrachtungen zu Karl Mays Alterswerk. In: JbKMG 1992, S. 299-317 (S. 300).
3Ebd., S. 300f.
4Dorothee Sölle: Leiden. Stuttgart 1973, S. 102.
5Vgl. unten, S. 719.
6Hahn, wie Anm, 2, S. 301.
7Ebd., S. 308.
8Ebd., S. 309.
9Ebd.
10Ebd., S. 313.
11Ebd., S. 314.
12Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg 1910. Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim, New York21982, S. 33.
13Ebd., S. 76.
14Vgl. Adolf Gelber, Wilhelm Nhil, Paul Wilhelm: Karl May in Wien. Letzte Interviews (1912). In: JbKMG 1970, S. 81-91 (S. 85).
15Hahn, wie Anm. 2, S. 301.
16Karl May: Mein Glaubensbekenntnis (21.12.1906). In: Donau-Zeitung. Passau 1907. Wiedergegeben in: Schriften zu Karl May. Materialien zur Karl-May-Forschung, Bd. 2. Ubstadt 1975, S. 245f. (S. 245).
17Heinrich Wagner: Karl May und seine Werke. Eine kritische Studie. Passau 1907. Wiedergegeben in: Schriften zu Karl May, wie Anm. 16, S. 129-179 (S. 165).
18Zit. nach Max Dittrich: Karl May und seine Schriften. Eine literarisch-psychologische Studie für Mayfreunde und Mayfeinde. Dresden 1904. Wiedergegeben in: Schriften zu Karl May, wie Anm. 16, S. 1-127 (S. 102).
19Karl und Klara May: Briefwechsel mit Adele und Willy Einsle. In: JbKMG 1991, S. 11-96 (S. 30, Brief Karl Mays vom 8.4.1905 an Willy).
20Ebd., S. 33.
21Amo Schmidt: Abu Kital. Vom neuen Großmystiker (1958). In: Karl May. Hrsg. von Helmut Schmiedt. Frankfurt/M. 1983, S. 45-74 (S. 48).
22Claus Roxin: Karl Mays 'Freistatt'-ArtikeL Eine literarische Fehde. In: JbKMG 1976, S. 215-229 (S. 225).
23Vgl. oben, S. 442f.
24So lautet die Überschrift eines Artikels von Rainer Stephan in der 'Süddeutschen Zeitung' Nr. 230 vom 7.10.1987 (S. XV).
25Claus Roxin in einem Brief vom 15.12.1987 an den Verfasser.
26Claus Roxin: Das einundzwanzigste Jahrbuch. In: JbKMG 1991, S. 7-10 (S. 8f.).
27Dieter Sudhoff - Hartmut Vollmer: Einleitung. In: Dsb. (Hrsg.): Karl Mays "Im Reiche des silbernen Löwen". Karl-May-Studien, Bd. 2. Paderborn 1993, S. 7-35 (S. 28) - Vgl. Helmut Schmiedt: Zwei Jahrzehnte danach: Stand und Aufgaben der Karl-May-Forschung. In: JbKMG 1992, S. 162-182 (S. 172).



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Sekundärliteratur


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