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Kurze Schullehrerzeit: Konflikt mit der Amtskirche und Scheitern im bürgerlichen Beruf


Vater May war am Ziel: Der Sohn war etwas geworden, wenn schon nicht Arzt, so wenigstens Lehrer. Für Karls Verhältnisse war das viel. Er hatte mehr erreicht als die Vorfahren und auch mehr als die anderen Webersöhne in Ernstthal.

   Die Verantwortung eines Lehrers schätzte May überaus hoch. In seinem Bittgesuch (März 1860) hatte er versichert, der Lehrberuf sei seine "Lebensaufgabe"; dieses Berufsziel fallenzulassen, sei ihm "unmöglich".1 Ein "Lehrer zu sein, ist ein hochwichtiger, ein heiliger Beruf", gibt - in Winnetou I2 - der ehemalige Hauslehrer Old Shatterhand dem erstaunten Sam Hawkens zu verstehen. Und in der Selbstbiographie heißt es: "Nicht akademisches Studium, sondern nur Lehrer werden! Nur? Wie falsch! Es gibt keinen höheren Stand als den Lehrerstand." (S. 94)3

   Die Arbeitsbedingungen eines Lehrers waren freilich nicht attraktiv. Die Klassen hatten, für heutige Verhältnisse undenkbar, oft mehr als sechzig Schüler. Wie die deutsche Literatur, von Jean Paul bis Jeremias Gotthelf, bezeugt,4 war das 'arme Dorfschulmeisterlein' überhaupt zu bedauern. Das Ansehen im Volk war wohl ebenso niedrig wie das Honorar. Die Bezahlung war sehr unterschiedlich bemessen, je nach der Finanzlage der Gemeinden und Städte. Das durchschnittliche Einkommen des Lehrers "betrug auf dem Lande zu dieser Zeit nur 86 Taler [...], während ein Lampenaufseher in Dresden 400 Taler verdiente."5

   Mays Schulmeistergehalt belief sich auf 175 Taler im Jahr nebst 25 Talern Mietzuschuß.6 Er war zufrieden damit: "Ich [...] besaß ein Amt; ich bekam Gehalt. Der Anfang zum Aufstieg war da [...] Der Vater schwärmte mit. Die Mutter war stillglücklich. Großmutters alte, treue Augen strahlten." (S. 105)

   Umsonst! Das Glück war brüchig und währte keine drei Monate. Aus dem Jahre 1856 gab es schriftlich fixierte Verhaltensregeln; sie legten das dienstliche und private Leben der Junglehrer fest. Diese Regeln waren so autoritär, gesetzlich und zwanghaft wie die Seminarordnung in Waldenburg. Sie preßten Karl May "erneut unter Normen, zu denen er ebenfalls schon bald in Widerspruch geriet."7



5.1

Die Affäre in Glauchau: Erneuter Liebesverlust


Am 7. Oktober 1861 wurde May Hilfslehrer in der vierten Klasse der Armenschule in Glauchau. Die Kinder der Ärmsten gingen dorthin, um "das Los der Armut" - so Ingmar Winter - "als gottgewollt ansehen"8 zu lernen.

   Schon nach zwölf Tagen war das Dienstverhältnis beendet. Warum? Zu Glauchau, in einem Zimmerchen in der Großen Färbergasse 7, wohnte May bei dem Kaufmann Ernst Theodor Meinhold (1835-1890). Der Händler war mit der neunzehnjährigen Henriette Christiane geb. Geißler verheiratet. Daß diese Ehe nicht die glücklichste war, ist zu vermuten;9 der 'Einbruch' eines Dritten war da leicht möglich. Und wirklich: das "Verhängniß [kam] in Gestalt eines jungen Candidaten des Schulamtes."10


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   May und die gleichaltrige Dame fanden sich reizend. Die Selbstbiographie weiß davon nichts, aber Karl Mays - vom Bewußtsein weniger kontrollierter - Hintertreppenroman (Der Weg zum Glück) könnte die Decke heben und das Dunkel beleuchten: "Ihre vollen Formen, das blendende Weiß Ihres Teints, die prächtigen Augen, die berauschenden Lippen, das - das Alles nahm meine Sinne gefangen."11

   Eine doppelbödige Szene in Mays Reiseerzählung Die Todes-Karavane (1882) könnte ebenfalls auf diese Affäre bezogen werden:


[Saduk] verkehrte viel in dem Hause des Muschtahed12 und sah die Tochter desselben. Sie gefiel ihm, und er war ein schöner Mann. Er [...] wagte es, zu ihr von seiner Neigung zu sprechen. Der Muschtahed befand sich unbemerkt in der Nähe und ließ ihn festnehmen.13


   Nach allen Umständen, soweit sie bekannt sind, ist klar: Für Mays Werben war die junge Frau Meinhold empfänglich. Mays Nachhilfeunterricht am Klavier, vom Ehemanne gebilligt, begünstigte die Romanze. Henriettes Seele zum Schwingen und ihre 'Saiten' zum Klingen zu bringen, verstand der musische Lehrer wohl besser als der spröde Gemahl.

   Nach Auskunft Karoline Selbmanns, einer Schwester Mays, wurden Karl und Henriette bei einem Kuß überrascht.14 Der 'betrogene' Gatte eilte sofort, am 17. Oktober, zur Obrigkeit: zum Superintendenten Carl Wilhelm Otto (1812-1890), in dessen Händen die Kirchen- und Schulaufsicht vereinigt waren. Meinhold zeigte den Schändlichen an: Der Untermieter habe "in der unwürdigsten Weise" versucht, seine Frau "von ihm abwendig" zu machen.15 Unrechte Absichten gestand der Lehrer nicht ein; aber "Annäherungen" an Henriette, die - so Otto - "als ungehörig, ja als unsittlich bezeichnet werden müssen", räumte May, vom geistlichen Herrn in die Enge getrieben, doch ein.16

   Wie ernsthaft, wie verwerflich oder wie harmlos Mays "Annäherungen" tatsächlich waren, ist nicht mehr zu klären. Für ein 'Verhältnis' im eigentlichen Sinne gibt es keine zwingenden Hinweise. Daß Hugo, der neun Monate später geborene Meinhold-Sproß (dem neun weitere Kinder folgten), ein Sohn Karl Mays sein könne, ist zwar nicht auszuschließen; erwiesen ist es aber nicht.17

   Die Begegnung mit Henriette: ein Geplänkel, ein Flirt ohne Tiefe? Der Lehrer Ma(y)x Walther, in Der Weg zum Glück, hat einen andern Charakter: "Ich liebte Sie wirklich und von ganzem Herzen. Nach dem Scheiden schwärmte ich für Sie und dichtete auf Sie Lieder, wie ich sie so schön vielleicht in meinem Leben nicht wieder dichten werde."18

   Daß sich in den Worten Max Walthers - unter anderem - die Begegnung Karls mit Henriette spiegelt, ist eine vertretbare Annahme. Auf die wirklichen Gefühle des neunzehnjährigen May läßt dieses Roman-Zitat aber keine sicheren Rückschlüsse zu.19 Eine Hypothese darf gleichwohl gewagt werden: Im Verlust Henriettes wiederholte sich das Anna-Erlebnis, die große Enttäuschung des sechzehnjährigen Karle, und vielleicht auch (falls es sie gab) die 'Urszene': der Liebesentzug durch die Mutter.20

   Die innere Struktur dieser Erlebnisse war, trotz der veränderten Ausgangslage, dieselbe: Eine Frau nahm ihre Liebe zurück. Und wieder unterlag der 'Dichter' dem 'Krämer'; die Institution Ehe verlangte ihr Recht. Henriette konnte nicht anders; sie mußte sich von May distanzieren. Daß sie die "in allen Stücken unschuldige Ehefrau"21 sei, den Lehrer also nie geliebt habe, dies wollte der Mann, dies wollte die Obrigkeit, dies wollte die strenge Moral. Henriette mußte sich fügen, und Karl May war wieder allein. Er hatte, nach Anna Preßler ein weiteres Mal, die Liebe verloren. Sie zu suchen, wurde die Aufgabe seines Lebens.


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   Zum weiteren Verlauf der Ereignisse: Meinhold und May beschuldigten sich gegenseitig. Schon vor dem Kuß war es vermutlich zum Streit zwischen den Männern gekommen; nach Mays - späterer - Darstellung wegen der "Trunksucht" des Händlers. Superintendent Otto glaubte nur Meinhold. Denn May war dem "Lügengeiste" ergeben; außerdem war "der Ruf einer achtbaren Familie möglichst zu schonen".22

   Karl May wurde nicht geschont. C.W. Otto, der gesetzestreue, auf Sitte und Moral bedachte Vertreter des Staatskirchentums, strafte so hart es nur ging: mit der fristlosen Entlassung am 19. Oktober 1861. Für den Fall, daß May auf der Kündigungsfrist bestehen oder gar sich beschweren würde, drohte Otto mit einer Klage. May zog es vor, zu verzichten.

   Der junge Lehrer war arbeitslos. Er konnte sich nicht verteidigen und fühlte sich wieder als Opfer. Er hatte alles verloren: den Beruf, die Gunst der Behörde und die Zärtlichkeit einer Frau.



5.2

Fabriklehrer in Altchemnitz: Vom Abgrund bedroht


Ein Disziplinarverfahren hatte Otto nicht eingeleitet. Mays Geständnis reichte dafür nicht aus, und Beweise waren nicht zu erbringen. Die Entlassung war, wie in Waldenburg, übereilt und nicht angemessen. Doch Anfang November, nach über zwei Wochen schon, faßte May noch ein letztes Mal Fuß. Am 26. Oktober 1861 bewarb er sich um eine offene Lehrerstelle in Altchemnitz, nahe bei Chemnitz. Durch die Vermittlung des Chemnitzer Superintendenten Robert Kohl konnte er am 6. November dieses Amt übernehmen. Er wurde sogar noch 'befördert': zum selbständigen Lehrer an den Fabrikschulen der Spinnereien Julius Claus und Solbrig & Söhne. May "hatte vorerst noch einmal Glück. So mitleidlos die fristlose Entlassung auch im ersten Augenblick erscheinen mag, sein weiterer Werdegang wurde davon nicht negativ beeinflußt."23

   Allerdings beging nun May einen Fehler, der das baldige Unglück womöglich heraufbeschwor: Als er sich in Altchemnitz bei Diakon Pfützner, dem Lokalschulinspektor, vorstellte, verschwieg er die Hintergründe seiner Entlassung aus der Armenschule in Glauchau. Noch am 6.11.1861, dem Tage des Dienstantritts in den Fabrikschulen, drang Pfützner auf eine Erklärung. Mays Angaben, welche die Fakten verdrehten oder verschleierten, prüfte er nach, und die Affäre Glauchau "kam ans Tageslicht [...] Nur der akute Lehrermangel an der Fabrikschule Solbrig/Claus bewahrte den lügenhaften Schulamtskandidaten vor einer abermaligen sofortigen Entlassung. "24

   Das große Los hatte May freilich nicht gezogen; die Fabrikschulen wird er als "Strafstellen"25 empfunden haben! Er kam mit einem der übelsten Mißstände des Kapitalismus in Berührung: mit der Ausbeutung von Kindern in der Textilindustrie. Die Schüler waren keine "ziemlich erwachsenen" (S. 103) Arbeiter, sondern zehn- bis vierzehnjährige Kinder; sie mußten täglich zehn Stunden arbeiten und dann, in einer trostlosen Giebelstube, berufsbegleitenden Unterricht (vor allem Religionslehre) über sich ergehen lassen. Für die Lehrkräfte war die Arbeit an solchen Schulen "eine ungemeine Belastung; unter der zeitgenössischen Lehrerschaft galt sie allgemein als eine Tätigkeit, die eines geschulten Pädagogen unwürdig war."26

   Über die Zustände in den Fabrikschulen sind von May keine Äußerungen, keine ausdrücklichen Reflexionen bekannt. Es liegt jedoch nahe, daß sein - im späteren Erzählwerk


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bezeugtes, in der eigenen Kindheit verwurzeltes und durch die Räuberhauptmannlektüre bestätigtes - Mitleid mit den Ärmsten verstärkt worden ist.

   May gehörte selbst zu den Ärmsten. Während Robert Kohl, bei einer Visitation am 10.12.1861, das "Lehrgeschick"27 des Neunzehnjährigen lobte, ließ der Glauchauer Amtsbruder nicht locker. Noch im November teilte Otto dem Junglehrer mit, "daß er nur provisorisch und unter speciellster Controlle sein Amt als Fabriklehrer zu Altchemnitz verwalten könne, und er bei der geringsten Veranlassung zu Unzufriedenheit mit ihm in Lehre, Leben und Wandel seiner Stellung wieder werde entlassen werden."28

   So kam es denn auch. Die "geringste Veranlassung" ließ nicht auf sich warten. "Hier haben meine Bekenntnisse zu beginnen. Ich lege sie ab, ohne Scheu, der Wahrheit gemäß." (S. 103) Gottes Gerechtigkeit und die Reue über die eigene Schuld werden beschworen, wenn der reif gewordene Dichter seinen Lesern beteuert: "Da läßt sich nichts verschweigen und nichts beschönigen. Da muß man Alles ehrlich sagen und ehrlich bekennen, wie es war und wie es ist." (S. 12)



5.3

Das große Trauma: Der 'Uhrendiebstahl' und die Verhaftung


Die ganze Wahrheit hat May in der Selbstbiographie nicht bekannt. Seine Delikte ab 1864 'vergißt' und verdrängt er zum größeren Teil (er hat sie ja, verschlüsselt, in seinen Erzählungen schon 'gebeichtet'). Man muß das verstehen. Zu seinen Lesern gehörten auch Gegner, darunter auch böswillige. Sich gewissenhaft anzuklagen, aber auch sich selber zu schützen, hatte er allen Grund.

   Seine wirklichen Straftaten schildert May sehr verdeckt und mit äußerster Knappheit; die Vorgeschichte stellt er um so ausführlicher dar. Zu Recht! Denn was jetzt, zu Weihnachten 1861, geschah, war "das EINE zentrale Ereignis",29 das - vorbereitet durch die Entlassungen aus dem Waldenburger Seminar und der Armenschule in Glauchau - zur ursprünglichen Katastrophe führte, die May nie verwunden und die sein Gesamtwerk gezeichnet hat: Er wurde abgeführt vom Gendarm! Das wurde zum Trauma, zur stigmatischen und nie verheilenden Wunde Karl Mays: "Dieses Entsetzen hat mich nicht wieder verlassen; es gab mich nicht wieder frei."30

   Von Julius Hermann Scheunpflug,31 seinem Logis-Mitbewohner in Altchemnitz, wurde er angezeigt. Scheunpflug, ein Buchhalter der Firma Solbrig, beschuldigte Karl May, ihm eine Taschenuhr, eine Tabakspfeife und eine Zigarrenspitze gestohlen zu haben. Nach seiner eigenen Darstellung wurde May am Weihnachtstag auf dem Christmarkt, nach Lebius32 aber am 26. Dezember in Hohenstein, beim Billardspiel im Gasthof 'Drei Schwanen' (heute 'Hotel Sachsenring'), verhaftet und zur Untersuchung nach Chemnitz gebracht. Seine Unschuldsversicherungen hatten keinen Erfolg. Auch die Bemühungen seines Vaters33 waren vergeblich.

   May wurde verurteilt zu sechs Wochen Haft. Weit schlimmer noch: seine Lehrtätigkeit war damit beendet - für immer. Seine Zukunft schien aussichtslos. Dem Aufstieg aus den Ernstthaler Sümpfen folgte der Rückfall ins alte Milieu und der Sturz in den Abgrund. "Kein Wunder, daß Karl May ein Leben lang einen Akt der Bosheit und niederträchtig-kleinlicher Gesinnung in Scheunpflugs Vorgehen erblickte - und es literarisch immer wieder umsetzte. "34

   Nach Mays eigener Schilderung (S. 103ff.) war er kein Dieb: Der Lehrer war zu arm, sich eine Uhr zu erwerben; da bat er den Buchhalter, ihm die alte Taschenuhr, die dieser


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nicht brauchte, zu leihen. Der Zimmergenosse tat ihm diesen Gefallen. Jeden Tag, nach dem Unterricht, hängte May die Uhr an den Wandnagel. Später unterließ er dies und behielt die Uhr, mit dem Einverständnis ihres Besitzers, bis zum Abend in seiner Tasche. Als am Nachmittag des 24.12.1861 die Ferien begannen, fuhr er sofort mit der Bahn nach Hause und vergaß, die Uhr noch vorher zurückzugeben.

   Bei der Festnahme war er so entsetzt, daß er sich in seiner Verwirrung "wie ein wirklicher Dieb benahm".35 Er "beging den Wahnsinn, den Besitz der Uhr in Abrede zu stellen; sie wurde aber, als man nach ihr suchte, gefunden. So vernichtete mich also die Lüge, anstatt daß sie mich rettete." (S. 107)36

   Trotz einiger Unstimmigkeiten im Detail ist Mays, ihn entlastende, Version durchaus plausibel. "Zumindest was die Uhr betrifft, dürfte das von May gelieferte Motiv glaubwürdig sein."37 Daß er die Uhr und die anderen Gegenstände nicht stehlen, sondern nur ausleihen und später zurückgeben wollte, ist "sehr wahrscheinlich".38

   Ob May die Rückgabe der Uhr am Heiligen Abend tatsächlich vergessen hatte oder ob er sie, von vornherein, erst nach den Ferien zurückbringen wollte, muß dahingestellt bleiben. Vielleicht wollte der junge Lehrer den Ernstthalern, auch den Eltern und Geschwistern, mit seinem 'Reichtum' imponieren: wie - in Mays Roman Die Juweleninsel - der Lehrjunge Brendel, der "um groß zu thun, dem alten Müller seine Meerschaumpfeife wegstibitzt"39 hatte.

   Ein Verbrecher war er auch in diesem Falle noch lange nicht!


Denn die Taten, die ihn auf die schiefe Bahn gebracht haben, der Kerzendiebstahl und die unbefugte Benutzung einer fremden Taschenuhr - wobei auch die Unbefugtheit noch nicht einmal zweifelsfrei ist - sind wirklich bagatellarische Unregelmäßigkeiten, deren Unwertgehalt durch die soziale Not des Handelnden noch weiter reduziert wird.40


   Wie ein Frevler behandelt zu werden, war für May eine Schmach, ein schweres Verhängnis. Es traf ihn "wie ein Schlag über den Kopf, unter dessen Wucht man in sich selbst zusammenbricht. Und ich brach zusammen!" (S. 109)

   In Mays Roman Deutsche Herzen - Deutsche Helden heißt es beziehungsreich: Leute, die "einmal einen recht großen und plötzlichen Schreck gehabt" haben, "behalten gewöhnlich einen Rest fürs ganze Leben. Entweder stottern sie, oder sie fahren ganz unerwartet erschrocken zusammen. "41

   In der Tat: "fürs ganze Leben" beschäftigte May diese 'Uhrengeschichte'. Ihr kommt eine Schlüsselbedeutung zu für das Verständnis seines Lebens und seiner Bücher: Urplötzlich festgenommene, überraschend auf den Kopf geschlagene und völlig unschuldig verurteilte 'Edelmenschen' wurden zu einem der Grundmotive in Mays Geschichten.42



5.4

Der religiöse Hintergrund: Ein unbarmherziges 'Christentum'


War die Strafe gerecht? Grausam und gnadenlos war sie mit Sicherheit. Mays so mühsam errungenes Lebensglück wurde zerstört. Der Erfolg seines Strebens, der Stolz seiner Familie wurden zunichte gemacht. Und der seelischen Verwüstung wurde der Boden bereitet.

   Die Höhe des Strafmaßes ist nicht zu verstehen. Nach den Forschungsergebnissen wurde May vermutlich nicht wegen Diebstahls, sondern wegen "widerrechtlicher Benutzung fremder Sachen" verurteilt.43 Für dieses, seit 1871 in Deutschland nicht mehr strafbare, Vergehen sah Art. 330, Abs. 3 des sächsischen Strafgesetzbuches (1855) höchstens eine


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Freiheitsstrafe von sechs Wochen vor. Es mag ja sein, daß das Gericht Karl May verurteilen mußte: da der Buchhalter Scheunpflug seinen Strafantrag nicht zurückzog;44 im Falle Mays die HÖCHSTSTRAFE zu verhängen, war jedoch - zumindest aus heutiger Sicht - ungerecht, weil sie für May das berufliche 'Aus' bedeutete.

   Man ließ dem Strebsamen keine weitere Chance. Die zerstörerische Wirkung solcher Sanktionen ist heute unbestritten: Der Freiheitsentzug für relativ geringe Vergehen "macht den Verurteilten [...] gesellschaftlich unmöglich und treibt ihn durch dieses Stigma erst recht in die Kriminalität, der sie vorbeugen will."45

   Nach den Grundsätzen heutiger Rechtsprechung wäre Karl May wegen der Uhrengeschichte nicht ins Gefängnis gekommen. Er wäre vermutlich - so Roxin -


wegen Mangels an Beweisen freigesprochen worden; hätte man ihn verurteilt, so wäre ihm als Heranwachsendem [...] eine der nicht diskriminierenden Sanktionen des Jugendstrafrechts auferlegt worden; und selbst wenn man ihn nach den Regeln des Erwachsenenstrafrechts behandelt hätte, wäre er mit einer wenig erheblichen Geldstrafe bedacht worden.46


   Doch die Rechtsphilosophie, mit welcher der junge May konfrontiert wurde, war eine andere. Er wurde ein Opfer der staatlichen 'Ordnung', der rigoristischen 'Zucht'. Dreimal hintereinander - Waldenburg, Glauchau, Altchemnitz - schlug die Justiz erbarmungslos zu. Die Schläge ähneln sich in bedrückender Weise. Verhältnismäßig geringe Fehltritte wurden mit der höchstmöglichen Strafe geahndet - mit vernichtender Präzision.

   Gewiß, Mays Scheitern muß auch von seiner Persönlichkeitsstruktur her bedacht werden. Der künftige Schriftsteller konnte sich in jene Rolle nicht einpassen, "die ein auf Gehorsam und Entsagung seiner Diener ausgerichteter Staat ihm abverlangte".47 Mit Thomas Mann verwies Heinz Stolte auf die grundsätzliche Unfähigkeit vieler Künstlernaturen, einen bürgerlichen Beruf auszuüben: Mays Bestimmung war es, ein Dichter zu werden; Poeten und Träumer aber passen nicht hinein in die nüchterne Alltagswelt. "Ob sie nun Hölderlin oder Hebbel, Schiller oder Kleist, Gerhart Hauptmann oder Thomas Mann, Karl May oder Hermann Hesse heißen: gescheitert in einem bürgerlichen Beruf sind sie ALLE".48

   Daß May, früher oder später, auch ohne die beschriebenen Schicksalsschläge mit der Bürgerwelt in Konflikt geraten wäre, mag zutreffen. Seine - in der Kindheit schon virulente - 'Traumkraft' wird ihn der Realität wohl nachhaltig entfremdet haben. Aber auch die äußeren Faktoren, das soziale Umfeld, die Rachejustiz und die Verständnislosigkeit der Vorgesetzten, dürfen in ihren Folgen für May nicht unterschätzt werden.

   Mays Leben wurde geprägt durch das herrschende, mit der strafenden Staatsmacht verbündete 'Christentum'; seine Entwicklung wurde mitbestimmt durch Personen, die - wie Otto und Pfützner - das kirchliche Amt vertraten. Mays Biographie ist ein literaturpsychologisches, aber ebenso ein religiöses und theologisches Phänomen: Verheerende Eindrücke, die bei Karl Marx zur grundsätzlichen Religionskritik führten, verstärkten bei May, nach einer Phase der Ablehnung und des Protests (Ange et Diable!)49, die Suche nach dem wahren Christentum. Die in der Poesie des Spätwerks, ansatzweise auch in früheren Schriften, enthaltene Befreiungstheologie wird zum Resultat dieses Suchens.

   Mit dem Staatskirchentum, dem als pharisäisch empfundenen Klerikalismus, kam May nicht zurecht. Diese Art von Christentum konnte den Schwärmer nicht dulden und den Phantasten nicht gelten lassen; es sah ihn als störend und fremd an.

   Die Verbindung von 'Thron und Altar', die May im frühen Erzählwerk teils unkritisch bejaht, teils aber auch, in Scepter und Hammer und Die Juweleninsel50 z.B., mit den grellsten Farben karikiert, war nicht - wie die Botschaft Jesu - befreiend. Dieses System


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stand nicht auf der Seite der Schwachen, der 'Zöllner und Sünder'. Es war selbstzufrieden und satt. Für die Armen, die Hungernden und Dürstenden, die Erniedrigten und Beleidigten, fehlte ihm die Sensibilität.

   Das wurde für May zum Verhängnis. Wonach er verlangte und was ihm verweigert wurde, waren Anerkennung und Liebe. Wonach er sich sehnte und was er nicht fand, war die Erlösung vom Fluch seiner Kindheit. Seine Veranlagung zum "Zorn" (S. 193) und seine Tendenz zur Selbstbemitleidung fanden die beste Nahrung.

   Die Idee, sich am Staat und an der Gesellschaft rächen zu müssen, lag da nicht fern:


Der Gedanke an die mir widerfahrene Schande und an das Herzeleid meiner armen Eltern und Geschwister bohrte sich so tief und so vernichtend in meine Seele ein, daß sie schwer und gefährlich erkrankte [...] Ich sann auf Rache.51



Anmerkungen


1Zit. nach Klaus Hoffmann: Der "Lichtwochner" am Seminar Waldenburg. Eine Dokumentation aber Karl Mays erstes Delikt (1859). In: JbKMG 1976, S. 92-104 (S. 101f.).
2Karl May: Winnetou der Rote Gentleman I. Gesammelte Reiseromane, Bd. VII. Freiburg 1893, S. 153.
3Seitenangaben in () beziehen sich auf Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o.J. (1910). Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim, New York 21982.
4Vgl. Ingmar Winter: "Der Unterricht war kalt, streng, hart". Das Abbild zeitgenössischer Pädagogik bei Karl May. In: JbKMG 1988, S. 292-321 (S. 298).
5Ebd., S. 298.
6Nach Klaus Hoffmann: "Nach 14 Tagen entlassen...". Über Karl Mays zweites 'Delikt' (Oktober 1861). In: JbKMG 1979, S. 338-354 (S. 343).
7Gerhard Klußmeier - Hainer Plaul (Hrsg.): Karl May. Biographie in Dokumenten und Bildern. Hildesheim, New York 1978, S. 37.
8Winter, wie Anm. 4, S. 294; vgl. Christian Heermann: Der Mann, der Old Shatterhand war. Eine Karl-May-Biographie. Berlin 1988, S. 67f.
9Nach Hoffmann: "Nach 14 Tagen", wie Anm. 6, S. 348ff.
10Karl May: Deutsche Herzen - Deutsche Helden. Bamberg 1976 (Reprint der Dresdner Erstausgabe von 1885-87), S. 834; zit. nach Hoffmann: "Nach 14 Tagen", wie Anm. 6, S. 346.
11Zitat des Lehrers Max Walther (einer der vielen Selbstspiegelungen Mays) in Karl May: Der Weg zum Glück. Roman aus dem Leben Ludwig des Zweiten. Hildesheim, New York 1971 (Reprint der Dresdner Erstausgabe von 1886-88), S. 605. - Hoffmann: "Nach 14 Tagen", wie Anm. 6, S. 346, bezieht diese Stelle auf Henriette Meinhold; verschiedene Reminiszenzen an verschiedene Frauen dürften sich - m.E. - hier überlagern.
12May übersetzt dieses Wort mit 'Beweisführer': vermutlich ein verschlüsselter Hinweis auf Meinhold.
13Karl May: Von Bagdad nach Stambul. Gesammelte Reiseromane, Bd. III. Freiburg 1892, S. 209 (die 1882 erschienene Erzählung Die Todes-Karavane hat May später in diesen Band integriert); dazu Walther Ilmer: Von Kurdistan nach Kerbela. Seelenprotokoll einer schlimmen Reise. In: JbKMG 1985, S. 263-320 ( S. 294f.)
14Vgl. Hoffmann: "Nach 14 Tagen", wie Anm. 6, S. 346.
15Register der Superintendentur Glauchau (17.10.1861); zit. nach Hoffmann: "Nach 14 Tagen", wie Anm. 6, S. 347.
16Vgl. ebd., S. 350.
17Die Andeutungen bei Hoffmann: Ebd., S. 352f., sind nicht von der Hand zu weisen; aber zwingend sind sie nicht.
18May: Der Weg zum Glück, wie Anm. 11, S. 605; zit. auch bei Hoffmann: "Nach 14 Tagen", wie Anm. 6, S. 352.
19Der Dialog zwischen Max Walther und der 'Silbermartha' spiegelt m.E. mehr die ambivalente Beziehung zwischen May und seiner Ehefrau Emma (vgl. unten); eine Erinnerung an Henriette Meinhold dürfte gleichwohl mit eingeblendet sein. - Als weiteres (vielleicht noch stärkeres) Indiz für eine tiefere Beziehung des jungen May zu Henriette werte ich die Episode in Karl


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May: Waldröschen oder Die Rächerjagd rund um die Erde, Bd. II. Leipzig 1988 (Reprint des Dresdner Erstsatzes von 1882-84), S. 588-602: Hanetta (Henriette) und der junge Graf Ferdinando (Karl Friedrich May) de Rodriganda verlieben sich auf den ersten Blick. Ihre Liebe muß scheitern, weil sich Hanetta - aus pekuniären Gründen - an einen ältlichen Mann, den reichen Grafen Manfredo (Meinhold) de Rodriganda, gebunden hat. Schon vierzehn Tage (S. 601) nach der ersten und einzigen Liebesnacht kommt es zur Katastrophe: Hanetta muß verschwinden und Ferdinand flieht, zutiefst getroffen, nach Mexiko.
20Vgl. oben, S. 43.
21Aus dem Protokoll der Anzeige Meinholds; zit. nach Hoffmann: "Nach 14 Tagen", wie Anm. 6, S. 347.
22Acta Ephoralia der Superintendentur Chemnitz; vgl. Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 28f.
23Hoffmann: "Nach 14 Tagen", wie Anm. 6, S. 35 1.
24Walther Ilmer: Karl Mays Weihnachten in Karl Mays 'Weihnacht!' III. Eine Spurenlese auf der Suche nach Fährten. In: JbKMG 1989, S. 51-83 (S. 58); vgl. Hoffmann: "Nach 14 Tagen", wie Anm. 6, S. 348.
25May: Der Weg zum Glück, wie Anm. 11, S. 562; zu den schlimmen Zuständen in den Fabrikschulen vgl. Peter Richter: Die Chemnitzer Textilindustrie und ihre Fabrikschulen. In: MKMG 59 (1984), S. 33-37.
26Hainer Plaul: Karl May, wie Anm. 3, S. 370 (Anm. 104).
27Vgl. Wollschläger: Karl May, wie Anm. 22, S. 28.
28Zit. nach Wollschläger: Ebd., S. 29.
29Ilmer: Karl Mays Weihnachten in Karl Mays 'Weihnacht!'. In: JbKMG 1987, S. 101-137 (S. 102).
30May: Meine Beichte. In: Karl May's Gesammelte Werke, Bd. 34: "Ich". Bamberg 361976, S. 15-20 (S. 16).
31Dieser Name wird erstmals genannt bei Ilmer: Karl Mays Weihnachten III, wie Anm. 24, S. 55; Ilmer bezieht sich auf bisher unbekannte Forschungsergebnisse Klaus Hoffmanns (Hoffmann: Karl Mays Seminar- und Lehrerzeit, Ostern 1856 bis Weihnachten 1861. Monographie. Ungedr. Manuskript). - Vgl. zum Ganzen auch Walther Ilmer: Karl May - Mensch und Schriftsteller. Tragik und Triumph. Husum 1992, S. 22-29.
32Rudolf Lebius: Die Zeugen Karl May und Klara May. Ein Beitrag zur Kriminalgeschichte unserer Zeit. Berlin-Charlottenburg 1910, S. 3. - Der May-Feind Lebius stützte sich auf Informationen des Ernstthaler Gärtners H. R. Krügel; Wollschläger: Karl May, wie Anm. 22, S. 29, schließt sich in diesem Fall der Darstellung Lebius' an; Plaul: Karl May, wie Anm. 3, S. 371 (Anm. 107), bleibt unentschieden.
33Zu dessen Brief vom 26.12.1861 an Robert Kohl vgl. Wollschläger: Karl May, wie Anm. 22, S.30.
34Ilmer: Karl Mays Weihnachten III, wie Anm. 24, S. 57.
35May: Meine Beichte, wie Anm. 30, S. 16.
36Vgl. Ilmer: Karl Mays Weihnachten, wie Anm. 29, S. 104.
37Plaul: Karl May, wie Anm. 3, S. 371 (Anm. 106); ebenso Wollschläger: Karl May, wie Anm. 22,S.29.
38Claus Roxin: Vorläufige Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays. In: JbKMG 1971, S. 74-109 (S. 96).
39Karl May: Die Juweleninsel (1880-82). Karl Mays Werke II. 2. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1987, S. 45 u. 355.
40Claus Roxin: Karl May, das Strafrecht und die Literatur. In: JbKMG 1978, S. 9-36 (S. 17f.)
41May: Deutsche Herzen - Deutsche Helden, wie Anm. 10, S. 968.
42Zur Spiegelung des 'Uhrendiebstahls' in Mays Werk vgl. Heinz Stolte: Die Reise ins Innere. Dichtung und Wahrheit in den Reiseerzählungen Karl Mays. In: JbKMG 1975, S. 11-33 (S. 23ff.), sowie die Beiträge Ilmers in den JbKMG 1979, 1982, 1984, 1985, 1987 u. 1989.
43Vgl. Plaul: Karl May, wie Anm. 3, S. 371 f. (Anm. 108).
44Vgl. Ilmer: Karl Mays Weihnachten III, wie Anm. 24, S. 56f.
45Roxin: Bemerkungen, wie Anm. 38, S. 97.
46Ebd., S. 98.
47Klußmeier - Plaul: Karl May, wie Anm. 7, S. 37.


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48Heinz Stolte: Mein Name sei Wadenbach. Zum Identitätsproblem bei Karl May. In: JbKMG 1978, S. 37-59 (S. 44).
49Vgl. unten, S. 118ff.
50Vgl. unten, S. 166ff.
51May: Meine Beichte, wie Anm. 30, S. 16.




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