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Der Sturz in den Abgrund: Pseudologischer Wahn, diverse Straftaten und Haftaufenthalte


Den äußeren und inneren Halt hatte May jetzt vollends verloren. Es war wieder Nacht. Er war wieder 'blind': "Ich war nicht imstande, mich selbst zu betrachten, mich selbst zu verstehen, mich selbst zu führen und zu lenken."1 In Ardistan und Dschinnistan, einem seiner letzten Altersromane, schreibt Karl May: "Es gibt Menschen, die nicht leben, sondern gelebt werden [...] Einst hatte auch ich zu ihnen gehört. Ich war gelebt worden und hatte dies mit schwerem, bitterem, viele Jahre langem Weh bezahlen müssen."2

   Die Ereignisse dieser Jahre zu ordnen und zu bewerten, ist nicht mehr so schwierig, seit immer zahlreichere Einzelheiten aus Mays Leben publiziert und analysiert wurden. Claus Roxin, Hans Wollschläger, Hainer Plaul, Klaus Hoffmann und andere Forscher haben vieles geklärt. Schwer oder gar nicht Klärbares bleibt dennoch genug. Denn das Herz des Menschen ist "das größte, unbegreiflichste Räthsel",3 und offene Fragen gehören zur condition humaine.

   Es ist "menschlich verständlich",4 daß Mays Witwe und die literarischen Nachlaßverwalter eine biographische Erörterung der Mayschen Straftaten zu verhindern suchten und verschiedene Akten vernichteten. Heute aber ist die Situation eine ganz andere. "Wir sind es May und der Literaturgeschichte längst schuldig, alles noch erreichbare Material" zu erschließen.5

   Auch bei Mays Verfehlungen in den Jahren 1864/65 und 1869 könnte gefragt werden, ob sie nach den Grundsätzen heutiger Rechtsprechung überhaupt noch bestraft würden. In seiner Eingabe vom 25. Mai 1908 an den Untersuchungsrichter Larrass meinte der Schriftsteller: "Heut würde man mich freisprechen."6 Der Karl-May-Verleger Euchar A. Schmid und verschiedene May-Verehrer wie Karl-Hans Strobl und Ludwig Gurlitt schlossen sich dieser Auffassung an,7 freilich ohne die fraglichen Delikte in allen Details wirklich zu kennen. "Es handelt sich bei diesen (und zahlreichen vergleichbaren) Äußerungen bestenfalls um wohlmeinende Hypothesen, deren Verifizierung oder Widerlegung nur nach Veröffentlichung aller aus jener Zeit erhaltenen Zeugnisse mit Aussicht auf Erfolg versucht werden kann."8

   Viele Dokumente sind inzwischen bekannt. Ob und in welchem Grade Mays Schuldfähigkeit während seiner Delikt-Zeiten beeinträchtigt war, läßt sich trotzdem nicht sicher entscheiden.9

   Poetisch und wortreich deutet Mein Leben und Streben die Straftaten und ihre Hintergründe nur an. Mays Selbstbiographie enthüllt und verhüllt diese Jahre zugleich. Übersteigerte Selbstbeschuldigung wechselt sich ab mit versteckter, aber weitgehender Selbstentlastung. "So konnte Karl May sich je nach Stimmungslage als willenloses Opfer ungreifbarer Mächte fühlen oder das hohe Ausmaß seiner Bußfertigkeit betonen."10

   Ein Widerspruch? Mays Leben ist - wie bei allen Menschen, bei ihm aber verdichtet - ein Komplex von Edlem und Eitlem, von Wahrheit und Täuschung, von Schuld und Unschuld. Vieles und Fatales wirkt da zusammen, verschränkt sich, macht krank. Ein Schrei nach Erlösung!

   "Auch die nach Erlösung, nach Seligkeit dürstende Seele strauchelt, aber das Auge der Gnade wacht über ihr und richtet sie auf."11 Wieder wird es bestätigt: Mays Leben hat


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Ausnahme- und Modellcharakter in einem. Sein Sturz in den "Abgrund", seine äußeren und inneren Fesseln, sein Verlangen nach Freiheit - ein in dieser Ausprägung seltenes Schicksal und doch ein Symbol des 'gefangenen', die Befreiung ersehnenden Menschen schlechthin.12

   Der "im Gefängnis geborene Gedanke: Wenn ihr mich richtig kennen würdet, würdet ihr mich nicht mit solcher Mißachtung behandeln"13 ist wahr. Denn im Schöpfungsakt Gottes ist dieser Gedanke begründet! "Was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst, des Menschen Kind, daß du seiner dich annimmst?" So fragt der Psalmist. Und er preist seinen Gott, der den Menschen - auch in der Erniedrigung - nicht vergißt, ihn aufrichtet und krönt "mit Ehre und Herrlichkeit" (Ps 8, 5f.).



Anmerkungen


1Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o.J. (1910). Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim, New York 21982, S. 111.
2Karl May: Ardistan und Dschinnistan I. Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXXI. Freiburg 1909, S. 435.
3Karl May: Der Weg zum Glück. Roman aus dem Leben Ludwig des Zweiten. Hildesheim, New York 1971 (Reprint der Dresdener Erstausgabe von 1886-88), S. 636.
4Claus Roxin: Vorläufige Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays. In: JbKMG 1971, S. 74-109 (S. 76).
5Ebd.
6Zit. nach Roxin: Ebd., S. 100.
7Belegstellen bei Roxin: Ebd., S. 104 (Anm. 23 u. 24).
8Ebd., S. 77.
9Vgl. Roxin: Mays Leben. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 62-123 (S. 88).
10Walther Ilmer: Von Kurdistan nach Kerbela. Seelenprotokoll einer schlimmen Reise. In: JbKMG 1985, S. 263-320 (S. 298).
11Karl May: Die Juweleninsel (1880-82). Karl Mays Werke II. 2. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1987, S. 78.
12Gert Ueding: Der Traum des Gefangenen. Geschichte und Geschichten im Werk Karl Mays. In: JbKMG 1978, S. 60-86 (S. 65f.), verweist auf die Mythen, auf die Literatur, die Philosophien und Religionen, die in der 'Gefangenschaft' eine Grundbefindlichkeit des Daseins überhaupt erkennen.
13Werner Raddatz: Das abenteuerliche Leben Karl Mays. Gütersloh 1965, S. 65; zit. nach Roxin: Bemerkungen, wie Anm. 4, S. 108 (Anm. 95).



6.1

Religiöse Rachegedanken und kreative Rettungsversuche


Völlig unschuldig war der neunzehnjährige May wohl nicht; so schuldig, wie seine Richter es sahen, aber noch weniger. Seine und des Vaters Gnadengesuche - wegen des 'Uhrendelikts' - verhallten dennoch im Wind. Sie verzögerten lediglich den Strafantritt. Die sechs Wochen Haft mußte Karl May vom 8. September bis zum 20. Oktober 1862 im Gerichtsgefängnis zu Chemnitz verbüßen. Seine innere Gefangenschaft wurde, zum erstenmal, manifest in der Zelle.

   Wenige Wochen nach der Entlassung, am 6. Dezember 1862, wurde der militärpflichtige May zusammen mit 46 Altersgenossen in Glauchau gemustert.1 Der Bataillonsarzt Dr. Horn erkannte, vermutlich wegen der Kurzsichtigkeit Karl Mays, auf "Untüchtigkeit". Das war keine Ausnahme. Von den übrigen Kandidaten wurden nur fünf für "tüch-


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tig" befunden. Für May bedeutete es die Befreiung von einem achtjährigen Dienst in der Armee. Die ihm selbst versagte Karriere ließ er - etliche Jahre später - seine literarischen Helden, seine Ich-Projektionen in den Kolportageromanen, um so üppiger nachholen: Er beförderte sie zu Generälen und höchsten Befehlshabern.

   Über Mays Leben im Jahre 1862 wissen wir ansonsten sehr wenig. Für den ehemaligen Lehrer begann eine Zeit, die er selbst als "Abgrund" bezeichnet. "Ich begann nicht mich, sondern andere zu beschuldigen [...] Ich sann auf Rache, und zwar auf eine fürchterliche Rache, auf etwas noch niemals Dagewesenes."2

   Später galt sein literarisches Streben dem Kampf gegen die Rachsucht, dem Sieg der Liebe über den Haß. Der Lehrer Ma(y)x Walther überwindet den eigenen Zorn: "Die Rache ist das Verächtlichste, was ich kenne".3 Aber jetzt, nach der Entfernung aus dem Lehramt, dachte May anders.

   Es mag ihm ergangen sein wie dem Riesen Falehd in Mays Roman Deutsche Herzen -Deutsche Helden: "Die Schande, [...] ausgestoßen worden zu sein, brannte wie Feuer in seinem Hirn [...] Er hatte nicht nur seine Ehre verloren, sondern auch seine Stellung, seine Habe. Er war ein Verfluchter [...]. Alle negativen Gefühle, deren das menschliche Herz fähig ist, wühlten in seinem Inneren."4 May hatte, so kann man vermuten, ein Herz wie der junge Katombo in Scepter und Hammer: ein Herz, "in welchem gebrochene Liebe, Haß und der feste Vorsatz, Rache zu nehmen, eng bei einander wohnten."5

   Die Schmach, die der Vorbestrafte nicht zu ertragen vermochte, trieb verrückte und doch wieder verständliche Ideen hervor: Die Rache "sollte darin bestehen, daß ich, der durch die Bestrafung unter die Verbrecher Geworfene, nun wirklich auch Verbrechen beging."6

   Gar so verwunderlich ist dieser Gedanke keineswegs. Aus eigener Erfahrung bestätigt hier May "ein erst Jahrzehnte später entwickeltes theoretisches Konzept"7 der Kriminalitätsforschung: Überzogene Strafen für Bagatell-Vergehen können wirkliche und ernsthafte Straftaten geradezu provozieren.

   May wollte sich "rächen an der Polizei, rächen an dem Richter, rächen am Staate, an der Menschheit, überhaupt an jedermann!" (S. 118)8 Die frommen Traktate der Volksschülerzeit - die naiven Heftchen des Ernstthaler Pfarrers9 - und nicht zuletzt die "starre, salbungsvolle und muckerische Schulmeisterreligiosität", für die Karl May in Waldenburg "dressiert" worden war10 (und die zu überwinden er lange gebraucht hat), brachten ihn auf tolle Gedanken: 'Ewige Verdammnis für die Schurken, die dich angeklagt, verurteilt und zum Verbrecher gemacht haben! So sei also einer! Und je zahlreicher und größer nun deine Verbrechen sind, um so größer ist dann auch die ewige Strafe für sie!' [...] Der Irrsinn siegte!"11

   Zu Straftaten kam es so schnell jedoch nicht. Zwischen der Entlassung aus dem Gefängnis zu Chemnitz und dem ersten Betrugsdelikt liegen fast 21 Monate: eine Zeit schwerster Kämpfe.

   Das Positive, das Vernünftige, das Gute in May schien zunächst noch zu überwiegen:


Es kehrte mir die Kraft und der Wille zum Leben zurück. Ich arbeitete. Ich gab Unterricht in Musik und fremden Sprachen. Ich dichtete; ich komponierte. Ich bildete mir eine kleine Instrumentalkapelle, um das, was ich komponierte, einzuüben und auszuführen [...] Ich wurde Direktor eines Gesangvereins, mit dem ich öffentliche Konzerte gab, trotz meiner Jugend. Und ich begann, zu schriftstellern. Ich schrieb erst Humoresken, dann "Erzgebirgische Dorfgeschichten" (S. 113) .


   Dichtung und Wahrheit, zuverlässige Darstellung und verklärende Überzeichnung dürften sich in diesem Zitat die Hand reichen. Dokumentarisch gesichert sind mehrere Auf-


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tritte Mays bei "musikalisch-declamatorischen Abendunterhaltungen" in Ernstthal und Hohenstein von Januar bis März 1863. Auch für das zweite Quartal dieses Jahres ist sein Aufenthalt in Ernstthal erwiesen: Wie aus dem kirchlichen 'Konfitentenbuch' hervorgeht, nahm er am 26. April und am 5. Juli am Abendmahl seiner Pfarrgemeinde teil. Seiner Aussage vom 8.6.1865, er habe nach der Strafverbüßung (im Herbst 1862) bei den Eltern gewohnt und seinen Lebensunterhalt mit Privatunterricht bestritten, kommt ein "hohes Maß an Glaubwürdigkeit zu".12

   Um sich seelisch zu retten, schrieb May für den Ernstthaler Gesangsverein 'Lyra', den er vielleicht auch geleitet hat, im ersten Halbjahr 1864 (vermutlich auch im zweiten Halbjahr 1863) eine ganze Reihe von eigenen Kompositionen, z.B. An die Sterne und Wanderlied. Der Natur des Autors entsprechend war der Charakter dieser Stücke recht verschieden: Frommes und Flottes, "je nachdem Vater-unser-mäßig getragen oder Immer forsch-resolut".13 Max Finke urteilte positiv: "Es scheint, als ob May in der Niederschrift von musikalischen Eingebungen eine fast ebenso große Gewandtheit besessen habe, wie in der Formung literarischer Einfälle."14

   Ob May schon in diesen Jahren zu "schriftstellern" begann, ist ungeklärt. Sein Bericht, er habe damals "den Auftrag erhalten, eine Parodie von 'des Sängers Fluch' von Uhland zu schreiben" (S. 115), könnte zutreffen. Am 24. April 1864 wurde in Ernstthal eine Deklamation von Des Sängers Fluch geboten. Mays Parodie mit dem Titel Des Schneiders Fluch könnte dabei zum Vortrag gekommen sein, vielleicht durch ihn selbst.

   Ansonsten liegt die literarische Arbeit Mays in diesem Zeitraum im Dunkel. Daß er "bereits seit Anfang der sechziger Jahre Schriftsteller"15 war und Humoresken und Dorfgeschichten verfaßte, ist weder bewiesen noch widerlegt.16 Trotz gründlicher Recherchen konnten solche Arbeiten bisher nicht gefunden werden. Viele in Frage kommende Zeitschriften - der 1862 gegründeten Firma Münchmeyer vor allem - sind verschollen. Die vergebliche Suche nach Beiträgen Mays hat also keine Beweiskraft gegen die Behauptung der Selbstbiographie: "Ich gab allem, was ich damals schrieb, besonders meinen Dorfgeschichten, eine ethische, eine streng gesetzliche, eine königstreue Tendenz. Das tat ich, nicht nur andern sondern auch mir selbst zur Stütze." (S. 118)

   Daß May solche Erzählungen um 1863 tatsächlich geschrieben oder wenigstens - wie vermutlich das erste Kapitel der Kriminal-Novelle Wanda17 - konzipiert hat, ist möglich. Daß sie gut honoriert wurden und "aus einer Zeitung in die andere" gingen (S. 113), ist jedoch falsch18 oder zumindest stark übertrieben. Diese Äußerung Mays dient, nach Heermann, "dem Ziel, seine damalige materielle Lage zu verhüllen und die kommenden Ereignisse mit einer zeitweiligen Bewußtseinsspaltung erklären zu können."19

   Unrichtig ist auch die Angabe Mays, daß er "zu jeder Zeit" (S. 110) wieder eine Anstellung hätte bekommen können. Falls er sich um den Wiedereintritt ins Lehramt beworben haben sollte,20 wurde ihm gewiß eine Absage erteilt. Jedenfalls wurden seine Zeugnisse kassiert, und sein Name wurde am 20. Juni 1863 aus der Liste der Lehramtskandidaten gestrichen.21 Eine Anstellung als Lehrer war ihm damit für immer verwehrt.

   Was wir über Mays Leben in der Zeit zwischen 1862 und Mitte 1864 mit Sicherheit wissen, ist eher dürftig. Während für 1862, für die erste Jahreshälfte 1863 und für das erste Halbjahr 1864 immerhin feststeht, daß Karl May in Ernstthal gelebt und als Musikant und Privatlehrer sein Dasein kärglich gefristet hat, gibt es für seinen Aufenthalt und seine Tätigkeit in der zweiten Hälfte des Jahres 1863 keine dokumentarischen Hinweise.

   Jene 'Wanderung durch die Vereinigten Staaten', von der Gustav Urban und dessen Vater erzählten,22 könnte 1863 - rein terminlich gesehen - gerade noch unterkommen.


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Den Urban-Berichten zufolge soll Karl May in St. Louis mit einem deutschen Förster namens Fred Summer - der sein Lehrmeister in allen Westmannskünsten geworden und literarisch als Old Firehand wieder aufgetaucht sei - zusammengetroffen sein. Für diese 'Frühreisen'-Legende gibt es aber keine Belege. May selbst hat eine Amerikareise für diese Zeit weder in der Selbstbiographie noch bei den polizeilichen Verhören des Jahres 1865 behauptet.

   Die Fred-Summer-Story, die von früheren May-Forschern ernstgenommen wurde, ist völlig unglaubwürdig.23 Von den inneren Widersprüchen der Urban-Geschichten einmal abgesehen, wäre eine Auslands- oder gar Überseereise Karl Mays im Jahre 1863 auch aus äußeren Gründen mit höchster Wahrscheinlichkeit auszuschließen. Für ein derartiges Abenteuer hätten ihm die materiellen Voraussetzungen gefehlt; außerdem hätte es unüberwindliche Genehmigungsprobleme mit den Paßbehörden gegeben.

   Es bleibt dabei: Die Aussagen Mays über seine Anwesenheit in Ernstthal - inklusive 1863 - treffen zu.24



Anmerkungen


1Vgl. Hainer Plaul: Auf fremden Pfaden? Eine erste Dokumentation über Mays Aufenthalt zwischen Ende 1862 und Ende 1864. In: JbKMG 1971, S. 144-164 (S. 148f.).
2Karl May: Meine Beichte. In: Karl May's Gesammelte Werke, Bd. 34: "Ich". Bamberg 361976, S. 15-20 (S. 16).
3Karl May: Der Weg zum Glück. Roman aus dem Leben Ludwig des Zweiten. Hildesheim, New York 1971 (Reprint der Dresdner Erstausgabe von 1886-88), S. 636.
4Karl May: Deutsche Herzen - Deutsche Helden. Bamberg 1976 (Reprint der Dresdner Erstausgabe von 1885-87), S. 619.
5Karl May: Scepter und Hammer (1879/80). Karl Mays Werke II. 1. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1987, S. 232.
6May: Meine Beichte, wie Anm. 2, S. 16.
7Claus Roxin: Karl May, das Strafrecht und die Literatur. In: JbKMG 1978, S. 9-36 (S. 18).
8Seitenangaben in () beziehen sich auf Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg 1910. Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim, New York 21982.
9Vgl, oben, S. 58f.
10May: Meine Beichte, wie Anm. 2, S. 17.
11Ebd.
12Plaul: Auf fremden Pfaden?, wie Anm. 1, S. 152.
13Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 32.
14Max Finke: Karl May und die Musik. In: KMJB 1925. Radebeul 1924, S. 39-63 (S. 56); vgl. Hartmut Kühne: (Werkartikel zu) Kompositionen, Lieder und Vertonungen. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 601ff.
15Karl May: Ein Schundverlag (Privatdruck 1905). In: Prozeßschriften, Bd. 2. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982, S. 279.
16Vgl. Wollschläger, wie Anm. 13, S. 32 u. 187f. (Anm. 44).
17Vgl. Hainer Plaul: Redakteur auf Zeit. Über Karl Mays Aufenthalt und Tätigkeit von Mai 1874 bis Dezember 1877. In: JbKMG 1977, S. 114-217 (S. 160).
18Wollschläger, wie Anm. 13, S. 32.
19Christian Heermann: Der Mann, der Old Shatterhand war. Eine Karl-May-Biographie. Berlin 1988, S.76.
20Vgl. Plaul: Auf fremden Pfaden?, wie Anm. 1, S. 155.
21Vgl. Klaus Hoffmann: Zeitgenössisches über "ein unwürdiges Glied des Lehrerstandes". Pressestimmen aus dem Königreich Sachsen 1864-1870. In: JbKMG 1971, S. 110-121 (S. 110); vgl. auch Plaul: Auf fremden Pfaden?, wie Anm. 1, S. 155.
22Vgl. die bei Wollschläger, wie Anm. 13, S. 188 (Anm. 51), genannte Literatur.
23Vgl. Plaul: Auf fremden Pfaden?, wie Anm. 1, S. 145ff.
24Vgl. ebd., S. 157.


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6.2

Die Ich-Spaltung


Schwieriger verhält es sich mit den Angaben Mays über seine psychische Krankheit. Was er in Mein Leben und Streben über seine Spaltungserscheinungen, seine Dämmerzustände und Bewußtseinstrübungen in den sechziger Jahren schreibt, wird ausgeschmückt sein. Vom Interesse der Selbstverteidigung wird es gefärbt sein, auch von psychiatrischer Fachliteratur, die ihm bekannt war und "die es ihm ermöglichte, in eindringlicher Weise sein eigener Anwalt zu sein".1

   Allein schon wegen des großen zeitlichen Abstands (40 bis 50 Jahre) zu den Ereignissen sind Mays Aussagen über seine damalige innere Verfassung nicht ohne weiteres als authentisch anzusehen. Mays Lektüre könnte die eigene Darstellung entscheidend beeinflußt haben.2 Seine psychologischen Kenntnisse schließen die Glaubwürdigkeit seiner Apologetik allerdings nicht notwendig aus. Es wäre auch denkbar, daß der Dichter Wilhelm Griesingers Lehrbuch Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten3 lediglich zur Stützung seines Gedächtnisses4 und als Formulierungshilfe benützt hat.

   Mays Schilderung wirkt phantastisch; sie darf aber dennoch "nicht vorschnell verworfen werden"!5 Die kriminologische Literatur erwähnt ausdrücklich die Möglichkeit, "daß der als Schwindler Verzeigte in Wahrheit in einem Dämmerzustande gehandelt hat; während des Dämmerzustandes, der eine Bewußtseinsstörung in sich schließt, kann der Betreffende, ohne in diesem Sinne orientiert zu sein, ein zweites Leben [...] führen. "6

   Folgt man der Selbstbiographie, so war sich May, zumindest zeitweilig, seiner inneren 'Spaltung' durchaus bewußt. "Es bildete sich bei mir das Bewußtsein heraus, daß ich kein Ganzes mehr sei, sondern eine gespaltene Persönlichkeit" (S. 111).7 Ein Teil seines 'Ich' war dem Vater und dessen Fehlern sehr ähnlich. Ein anderer Teil glich den "beglückenden Gestalten aus Großmutters Märchenbuche". (S. 112) Er mahnte und warnte; er "lächelte, wenn ich gehorchte", und "trauerte, wenn ich ungehorsam war". Ein dritter Teil war "häßlich, höhnisch, abstoßend, stets finster und drohend". Seine Stimme "sprach oft ganze Tage und ganze Nächte lang in einem fort zu mir. Und sie wollte nie das Gute, sondern stets nur das, was bös und ungesetzlich war." Sie stammte aus 'Batzendorf', sah aus wie Rinaldo Rinaldini oder "wie der fromme Seminardirektor" (ebd.).

   Solcher Zwiespalt muß an sich ja nichts Ungewöhnliches sein. Was wir vereinfacht das 'Ich' nennen, ist ein kompliziertes Gemisch aus vielerlei Strömungen. Auch Paulus schreibt ja im Römerbrief. "Ich begreife mein Handeln nicht: Ich tue nicht das, was ich will, sondern das, was ich nicht will [...] Dann aber bin nicht mehr ich es, der so handelt, sondern die in mir wohnende Sünde." (Röm 7, 15ff.)

   May sah sich gezwungen zu einem Tun, das sein besseres Ich verwarf und zurückwies. In der Reiseerzählung "Weihnacht!" meint der Kantorssohn Emil Reiter über sich selbst und seine schlechte Vergangenheit: " [...] ich bin kein böser Mensch! Ich habe da unter einem Zwange gestanden, von dem ich mich nicht losmachen konnte!"8 Diese Bemerkung kann autobiographisch verstanden werden. Auch May hörte 'Stimmen', die ihn bedrängten. 'Innere Stimmen' und in diesem Sinne Spaltungserlebnisse kennen wir alle. Das Besondere bei May war - der Selbstbiographie nach zu schließen - die Intensität, das gesteigert Dranghafte dieser Vorgänge: "Was sich in jedem Menschen vollzieht, ohne daß er es bemerkt oder auch nur ahnt, das vollzog sich in mir, indem ich es sah und hörte. War dies ein Vorzug, eine Gottesgnade? Oder war ich verrückt? " (S. 113)


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   Trotz seiner wahnhaften Bedrängnisse lebte er das "alltägliche Leben ganz so, wie jede gesunde Person es lebt, die von derartigen psychologischen Vorgängen nicht angefochten wird." (Ebd.) Doch die Ich-Spaltung wurde tiefer, wurde bedrohlicher und verwirrender. Aus den Gestalten wurden feindliche Heerlager: "Es wimmelte von Gestalten in mir, die mitsorgen, mitarbeiten, mitschaffen, mitdichten und mitkomponieren wollten. Und jede dieser Gestalten sprach; ich mußte sie hören. Es war zum wahnsinnig werden!" (S. 114)

   Zu den Spaltungserscheinungen kamen Bewußtseinsstörungen hinzu. May verlor, so erklärt er dem Leser, sein Ich, seine Erinnerung, seine Identität. In Leipzig zum Beispiel, wohin ihn eine "Theaterangelegenheit führte",9 hat May, obwohl er "gar nichts derartiges brauchte, Rauchwaren gekauft" und ist mit ihnen verschwunden, ohne zu bezahlen.10


Wie ich es angefangen habe, dies fertig zu bringen, das kann ich nicht mehr sagen; ich habe es wahrscheinlich auch schon damals nicht gewußt. Denn für mich ist es sicher und gewiß, daß ich ganz unmöglich bei klarem Bewußtsein gehandelt haben kann. Ich weiß von der darauf folgenden Gerichtsverhandlung gar nichts mehr, weder im Einzelnen noch im Ganzen. (S. 119)


   War May also unschuldig? Wie sein Erzählwerk belegt und wie es auch die autobiographischen Schriften bestätigen, hatte er Schuldgefühle sein Leben lang. Genauer gesagt: er hatte einen Schuld- und einen Unschuldskomplex zugleich. Er hat das selbst erkannt. Selbstkritisch und mit deutlicher Ironie stellt er fest: "Ich war ein Mustermensch, weiß, rein und unschuldig wie ein Lamm". Nur die "Welt hatte mich betrogen um meine Zukunft, um mein Lebensglück" (S. 118).

   May wußte: es gab etwas Böses, es gab etwas Schuldhaftes im eigenen Innern. Mit den Begriffen und Vorstellungen des allegorischen Spätwerks schildert er seinen Kampf:


Ardistan gegen Dschinnistan. Die übererbten Gedanken des Sumpfes, in dem ich geboren wurde, gegen die beglückenden Ideen des Hochlandes, nach dem ich strebte. Die Miasmen einer vergifteten Kinder- und Jugendzeit gegen die reinen, beseligenden Wünsche und Hoffnungen, mit denen ich in die Zukunft schaute, die Lüge gegen die Wahrheit, das Laster gegen die Tugend, die eingeborene menschliche Bestie gegen die Wiedergeburt, nach der jeder Sterbliche zu streben hat, um zum Edelmenschen zu werden. (S. 114)


   In seinem dritten Kolportageroman Der verlorene Sohn läßt May den ehemaligen Häftling Petermann bekennen: "Ich habe während jahrelangen Unglückes mit finsteren Geistern gerungen. Es war mir fast unmöglich, den Glauben an Gott und das Vertrauen zu den Menschen festzuhalten. "11

   Der May-Biograph Otto Forst-Battaglia erinnerte an Hieronymus Bosch. In Mays Beschreibung seiner inneren Kämpfe sah er die "klassische Schilderung hysterischer Dämmerzustände", an denen er zeitlebens gelitten habe.12 Und Karl-Hans Strobl meinte: "Wenn je ein Verbrecher durch inneren Zwang entschuldbar war, dann Karl May, es scheint wirklich, als habe um seine Seele ein Kampf zwischen Ormuzd und Ahriman stattgefunden, zu dessen Beginn die Finsternis Oberhand gewann."13

   Solche Urteile sind, wie gesagt, mit Vorsicht zu bewerten. Gleichwohl ist Mays Selbstentlastung nicht völlig von der Hand zu weisen. Zwar hat Wollschläger die Hysterie-These Forst-Battaglias als phraseologisch verworfen;14 ein psychischer Defekt des entlassenen Lehrers ist aber doch zu vermuten. Eine "narzißtische Affektion" hat Wollschläger festgestellt; selbst "paranoide Erscheinungsbilder" in Mays damaliger Psyche schließt er nicht aus.15 Kurt Langer hat diesen Befund zu präzisieren versucht: als chronische Angst, als depressive Charakterstörung, als Borderline-Syndrom mit "psychotischen Auslenkungen" und paranoiden Reaktionen.16

   Der Willenskontrolle entzogene Wahnvorstellungen könnten May tatsächlich beherrscht haben. Bedenkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß das Spaltungsmotiv auch in den


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Erzählungen Karl Mays sehr häufig literarisch gestattet wird.17 Auch die Person des Autors spaltet sich auf: ins heldische, moralisch hochstehende 'Ich' des Erzählers und in die zahlreichen, z.T. verbrecherischen Ich-Derivate.18 Die Spaltungstheorie in Mein Leben und Streben ist folglich zu beachten und in die Erörterung der Mayschen Vergehen miteinzubeziehen.

   Für die zumindest partikuläre Glaubwürdigkeit des Selbst-Psychogramms in der Autobiographie spricht ferner der Umstand, daß das in den Werken des Schriftstellers "sehr beliebte Motiv des Wahnsinns stets im Sinne des Identitätsverlustes verstanden wird; der Kranke hat vergessen, wer er eigentlich ist, oder hält sich für einen anderen."19

   Wie heißt es doch in Scepter und Hammer, einem der frühesten Phantasieprodukte unseres Autors?


Der Rundgang durch dieses Haus der Irren ließ Max einen tiefen Blick in die Leiden thun, denen der menschliche Geist ausgesetzt ist [...] Es gab da Künstler und Dichter, die, berühmt durch ihre Werke, hier an kindischer Einbildung laborirten oder unter dem Eindrucke eines finstern Phantomes wie seelenlose Kreaturen dahinvegetirten. Einer hielt sich für einen Tiger [...] Ein Anderer drehte sich unablässig um sich selbst; er bildete sich ein, die Erdachse zu sein. Ein Fernerer [...] hielt sich für Galilei und entdeckte alle Tage neue Sterne. Ein Weiterer glaubte Bonaparte zu sein; er stand laut kommandirend in seiner Zelle und dirigirte die Schlacht bei Wagram.20


   Die Ich-Spaltung, den narzißtischen Wahn, den Identitätsverlust und den pseudologischen Irrsinn könnte man greller und drastischer nicht ins Bild bringen!

   Als Indiz für die Möglichkeit eines getrübten Bewußtseins des Straftäters May könnte vor allem sein - während der Haftzeit verfaßtes - Gedicht Kennst du die Nacht betrachtet werden. In der ersten Strophe wird die gewöhnliche Nacht, in der zweiten die Nacht des Todes und in der dritten, hier zitierten Strophe, die Nacht des Wahnsinns beschrieben:


Kennst du die Nacht, die auf den Geist dir sinkt,
    Daß er vergebens um Erlösung schreit
Die schlangengleich sich ums Gedächtniß schlingt
    Und tausend Teufel ins Gehirn dir speit?
O sei vor ihr ja stets in wachen Sorgen,
Denn diese Nacht allein hat keinen Morgen!21


Diese Verse sind ein autobiographisch sehr wichtiges Dokument. Sie bringen, zum einen, die Angst des Verfassers vor dem drohenden Wahnsinn in der Gefängniszelle zum Ausdruck; sie könnten aber, zum andern, auch Erinnerungs-Material enthalten: aus der Straftäterzeit, die der Haft (der Entstehungszeit des Gedichtes) vorausging.

   Psychisch angeschlagen war May, spätestens nach der Uhrenaffäre, gewiß. Die Psychiatrie spricht von Schizophrenie und Psychosen, die Bibel von der Stimme des Teufels, von Mächten und Gewalten, von Dämonie und Besessenheit. Mögen Mays Störungen auch weniger zwanghaft und weniger dramatisch gewesen sein, richtig und allgemein gültig - auch für gesunde Menschen - bleibt jedenfalls dies: Nicht nur zwei, sondern viele Seelen wohnen in uns. Unsere Entschlüsse werden beeinflußt von 'dunklen' und 'hellen', sich oft widerstreitenden Mächten. Das kann, wenn böse Stimmungen und widrige Umstände zusammentreffen, zum Konflikt mit Gesetzen führen. "Potentielle Straftäter sind wir alle."22



Anmerkungen


1Richard Engel: Aus psychoanalytischer Schau. In: Karl May's Gesammelte Werke, Bd. 34: "Ich". Bamberg 361976, S. 539-544 (S. 542).


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2Vgl. Claus Roxin: Mays Leben. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 62-123 (S. 88).
3Wilhelm Griesinger: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten. Braunschweig 31871; Hainer Plaul: Nachwort (zu Karl May: Mein Leben und Streben. Hrsg. von H. Plaul. Hildesheim, New York 21982), S. 520ff., bietet eine aufschlußreiche Synopse von Passagen der Autobiographie Mays und Textstellen des Griesinger-Lehrbuchs, das in Mays Bibliothek stand.
4Vgl. Plaul: Ebd., S. 529.
5Claus Roxin: Vorläufige Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays. In: JbKMG 1971, S. 74-109 (S. 100); ähnlich Kurt Langer: Der psychische Gesundheitszustand Karl Mays. Eine psychiatrisch-tiefenpsychologische Untersuchung. In: JbKMG 1978, S. 168-173 (S. 169).
6v. Cleric: Der Hochstapler. In: Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht (1926), S. 44; zit. nach Roxin: Bemerkungen, wie Anm. 5, S. 101.
7Seitenangaben in () beziehen sich auf May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 3.
8Karl May: "Weihnacht!". Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXIV. Freiburg 1897, S. 601.
9Vgl. Klaus Hoffmann: Karl May als "Räuberhauptmann" oder Die Verfolgung rund um die sächsische Erde. Karl Mays Straftaten und sein Aufenthalt 1868 bis 1870, 2. Teil. In: JbKMG 1975, S. 243-275 (S. 260f.) - Vgl. auch Walther Ilmer: Karl May - Mensch und Schriftsteller. Tragik und Triumph. Husum 1992, S. 30.
10Von Mays Betrügerei am 20.3.1865 ist hier die Rede; vgl. unten, S. 94.
11Karl May: Der verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends. Hildesheim, New York 1972 (Reprint der Dresdner Erstausgabe von 1883-85), S. 1949.
12Otto Forst-Battaglia: Karl May. Traum eines Lebens - Leben eines Träumers. Beiträge zur Karl-May-Forschung I. Bamberg 1966, S. 46.
13Karl-Hans Strobl: Scham und Maske (1921). In: Karl May's Gesammelte Werke, Bd. 34, wie Anm. 1, S. 547-565 (S. 557).
14Hans Wollschläger: "Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt". Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays. In: JbKMG 1972/73, S. 11-92 (S. 14f.).
15Ebd., S. 46.
16Kurt Langer: Das helle und das dunkle Wesen. Untersuchung zur Spaltung des Innern von Karl May. In: MKMG 63 (1985), S. 8-13.
17Vgl. schon Ernst Altendorff. Die Spaltung des Ich. In: KMJB 1926. Radebeul 1926, S. 140-185; vgl. auch Walther Ilmer: Karl Mays Weihnachten in Karl Mays 'Weihnacht!' II. Eine Spurenlese auf der Suche nach Fährten. In: JbKMG 1988, S. 209-247 (S. 233ff.).
18Vgl. Walther Ilmer: Von Kurdistan nach Kerbela. Seelenprotokoll einer schlimmen Reise. In: JbKMG 1985, S. 263-320 (S. 297).
19Roxin: Bemerkungen, wie Anm. 5, S. 10 1.
20Karl May: Scepter und Hammer (1879/80). Karl Mays Werke II. 1. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1987, S. 71f.
21Karl May: Hinter den Mauern und andere Fragmente aus der Haftzeit. In: JbKMG 1971, S. 122-143 (S. 122); vgl. Roxin: Bemerkungen, wie Anm. 5, S. 101. - May hat dieses Gedicht in mehrere Romane hineinverwoben; zur Interpretation vgl. Max Finke: Aus Karl Mays literarischem Nachlaß. In: KMJB 1920. Radebeul 1919, S. 53-88 (S. 71ff.); vgl. auch Christoph F. Lorenz: "Als lyrischen Dichter müssen wir uns Herrn May verbitten"? Anmerkungen zur Lyrik Karl Mays. In: JbKMG 1982, S. 131-157 (S. 138ff.).
22Roxin: Bemerkungen, wie Anm. 5, S. 79.



6.3

Die erste Landstreicherzeit und die ersten Betrugsdelikte (1864/65)


Es gab - so heißt es in der Selbstbiographie -


Wochen, in denen es vollständig dunkel in mir wurde; da wußte ich kaum oder oft auch gar nicht, was ich tat. In solchen Zeiten war die lichte Gestalt in mir vollständig verschwunden. Das dunkle Wesen führte mich an der Hand. Es ging immerfort am Abgrund hin. Bald sollte ich dies, bald jenes tun, was doch verboten war. Ich wehrte mich zuletzt nur noch wie im Traum. (S. 119)1


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   Welche Abgründe, welche psychischen Energien und welche Straftaten deuten diese Formulierungen an? Welche Seelenkonflikte verbergen sich hinter der 'Lichtgestalt' und dem 'dunklen Wesen' des Delinquenten?

   May war arbeits- und mittellos. Seine Straftaten waren Eigentumsdelikte. Materielle Not scheint das nächstliegende Motiv. Nicht in der Autobiographie, aber im Erzählwerk bestätigt es der Autor indirekt selbst. In Mays letztem Kolportageroman Der Weg zum Glück macht die ARMUT den 'Krikelanton' zum Wilderer.2 Und im Abenteuerroman Die Juweleninsel heißt es sehr deutlich: "Den armen Teufel, welcher im höchsten Stadium der Noth [...] nach dem Brode greift, welches er nicht bezahlen konnte, den wirft man in das Verließ, ohne Gnade und Barmherzigkeit."3

   Der Hunger nach Brot war aber gewiß nicht das einzige und nicht das entscheidende Motiv für die Gesetzesverstöße des ehemaligen Lehrers. Bedenkt man die Lebensgeschichte und den neurotisch belasteten Charakter des jungen Mannes, dann ist eine Vielzahl von Beweggründen anzunehmen. Größte Armut, traumatische Erlebnisse in der Vergangenheit, eine giftige Umwelt, eine gekränkte - von der Justiz zugrundegerichtete - Seele, phantastische Tagträume, ein verlangsamter psychischer Reifungsprozeß, eine Renommiersucht, deren Gründe in die Kindheit zurückreichen, und eine (durch die Jugendlektüre geförderte) Pseudotheologie waren im Bunde.

   Auch amouröse Motive könnten eine Rolle gespielt haben. Möglicherweise wollte der junge May schon damals verschiedenen Frauen imponieren: vielleicht Malwine Wadenbach und ihrer Tochter Alma (oder Alwine),4 vielleicht auch einer Balletteuse der Theater- und Ballettgruppe H. Jerwitz aus Leipzig.5 Über unbewiesene Vermutungen hinaus geben die Anhaltspunkte aber nichts her.

   Man kann nur sagen: Seelische Verstörung, verständliche Rachegelüste, pseudologische Antriebe, versponnene Ideen und das Bedürfnis, sich auszuleben, verbanden sich bei May zu einem Syndrom, zur 'dunklen Gestalt'.

   Karl May wurde kriminell. Wie die Recherchen Hainer Plauls und Klaus Hoffmanns erweisen, ging er zielstrebig und planmäßig vor. Seiner Selbstverteidigung in Mein Leben und Streben, seiner Theorie einer seelischen Verwirrung, muß dies aber nicht widersprechen. Intelligentes Verhalten schließt innere Zwänge nicht völlig aus. Und Bewußtseinstrübungen konnten in unterschiedlicher Stärke auftreten; sie mußten nicht bei jeder Straftat vorhanden sein.6 "Ich war seelenkrank, aber nicht geisteskrank. Ich besaß die Fähigkeit zu jedem logischen Schlusse, zur Lösung jeder mathematischen Aufgabe." (S. 111)

   Nach der Schilderung seines inneren Zustandes könnte man das Ärgste vermuten. Doch Raub und Erpressung, Totschlag und Mord hat May nicht selbst verübt. Seine Schurken, seine literarischen Spalt-Ichs ließ er es tun. In der Reiseerzählung Die Todes-Karavane z.B. wird dem armen Saduk, wegen eines harmlosen Vergehens, die Zunge genommen; seine Wut, seine Rachsucht machen ihn, in der Folge, zum Mörder.7

   Mit Entsetzen, mit Abscheu (vor seinen eigenen Möglichkeiten?) berichtet der Erzähler von Saduks Verbrechen. Vielleicht hat den jungen May "nur ein Gnadenakt Gottes"8 vor dem Schlimmsten bewahrt. Was er anstellte, war Unfug, war objektiv strafwürdig, war rücksichtslos gegen die Opfer. Aber Schwerverbrechen waren es nicht. Eher grotesk, eher skurril wirkende Schwindeleien sind es gewesen, die im Ganzen seines Lebens nur Episoden waren9 und die - erheblich vergrößert und kunstvoll verfremdet, einander überblendend und unter den verschiedensten (teils ernsten, teils heiteren) Blickwinkeln betrachtet - in seinen Erzählungen wieder auftauchen.


//92//

   Der Straftäter May bewies kriminelle Energie; er war aber niemals brutal und gewalttätig. Eine eigenartige Mischung von Tragik und Komik, von Ernst und Spiel liegt seinen Taten zugrunde. Er "bevorzugte das Spielerische, Spitzfindige, Listige".10 Die Lust an der Posse, der Maskerade, der vertauschbaren Identität fällt auf.

   Auch Mays literarisches 'Ich' gibt sich gerne - oft ohne hinreichenden Grund - für einen anderen aus, "dessen Rolle es nun mit großer Meisterschaft zu spielen versteht."11 Unübersehbar ist schon jetzt, in der vorliterarischen Lebensphase, die Schlitzohrigkeit, die "beinahe künstlerische Freude am Schein",12 der Drang "zur 'großen Szene', zum Auftritt als einflußreiche Person und Beherrscher der Situation".13

   Mays Delikte enthüllen schon viel von seiner schöpferischen Begabung, die nach Gestaltung verlangte. Der Kriminalpsychologe Erich Wulffen (1862-1936) bemerkte dazu: Der "feine psychologische Zusammenhang" zwischen Mays Betrügereien und seinen künftigen Romanen sei nachweisbar. "Das Exotische, Phantastische, Fascinierende, welches seine Schriften so spannend macht, trat auch bei seinen Straftaten hervor."14

   Die ART der Mayschen Gesetzesbrüche erklärt sich aus den Merkmalen seiner Persönlichkeit. Er vereinigte "in geradezu klassischer Reinheit"15 die Eigenschaften des phantasiebegabten Erzählers, des kindlich-jugendlichen Charakters und des schauspielerischen Typs. Die habituelle Neigung zur pathologischen Lüge war damit gegeben. Wenn ein Mensch wie May "überhaupt Straftaten beging, mußten es Hochstapeleien sein."16

   Warum er tatsächlich straffällig wurde, ist eine andere Frage. Der künftige Dichter hatte pseudologische Neigungen, aber "gerade die spezifischen Wesenszüge des hochstaplerischen Betrügers besaß May nicht."17 Der echte Hochstapler ist unverbesserlich;


May hingegen hat seit 1870 mehr als 40 Jahre lang niemanden mehr in unredlicher Weise geschädigt. Im Gegenteil: Er hat wiedergutgemacht [...] Der leeren Entwicklungslosigkeit des Hochstaplers steht bei May eine stetige und bemerkenswerte Entwicklung gegenüber, im Persönlichen wie im Schriftstellerischen [...] Für den Hochstapler gilt: 'Es fehlt ihm die Liebesfähigkeit.' May dagegen lehrte die Überwindung des Hasses durch die Liebe,18


die zu seinem eigentlichen Thema wurde.

   Daß May kriminell wurde, ist nicht zuletzt der Verständnislosigkeit der Justiz zuzuschreiben. Der Hochstapler May war das "Produkt gesellschaftlicher Bestrafungsmechanismen".19 Doch seine persönliche Verantwortung darf nicht einfach geleugnet werden: "Was immer die Triebfedern für sein Fehlverhalten auch gewesen sein mochten - er hatte etwas Bösem in sich nachgegeben, obgleich er das Böse fürchtete und haßte."20

   Seine Schuld hat May, wie gesagt, in Mein Leben und Streben grundsätzlich anerkannt. Der alt gewordene Dichter hat sich seiner Taten geschämt. Er suchte sie, was Einzelheiten betrifft, zu verdrängen und zu verdecken, weil ihm "die Erinnerung daran wehe tat".21 Zwar will er ehrlich bekennen und keine seiner "Sünden mit hinübernehmen";22 aber es kann ihm "nicht einfallen", die Missetaten, die er einstens begangen hat, alle aufzuzählen. Denn sein eigener "Henker, Schinder und Abdecker" (S. 169) will er nicht sein.

   Die Selbstbiographie enthält "die wertvollsten psychologischen Einsichten; May hatte hier so viel kritische Distanz zu sich selbst gewonnen, wie das einem Menschen seiner Art überhaupt nur möglich war".23 Aber den Einblick in die Details seiner Delikte, der fürs Verständnis seines Lebens und Werkes erforderlich ist, verstellt uns der Autobiograph. Die May-Forschung indessen hat vieles ans Licht gebracht.

   Was ist geschehen? Zu welchen "Old Shatterhandstreichen" sah May sich "gezwungen [...] hier in der Heimath"?24


//93//

   Er wurde getrieben und trieb sich herum, rund um die sächsische Erde. Die Gesellschaft hatte ihn ausgestoßen; "in der Maske eines Hochstaplers enthüllte er ihre Schwäche und ihre Verletzbarkeit."25 Am 9. Juli 1864 führte ihn das "dunkle Wesen" (S. 119) nach Penig. Er erschien "bespornt"26 in dem kleinen, nordwestlich von Chemnitz gelegenen Städtchen. Als 'Augenarzt', als 'früherer Militair' und Mediziner aus Rochlitz, beeindruckte er seine Mitmenschen. Er nannte sich - Schelmerei läßt allein schon der Name erkennen - 'Dr. med. Heilig'. Einem späteren Steckbrief zufolge trug er eine Brille und war "von freundlichem, gewandtem und einschmeichelnden Benehmen".27

   Bei einem Schneider gab der 'Arzt' eine Hose und vier weitere Kleidungsstücke in Auftrag. Nach acht Tagen kam er zur Abholung. Bei dieser Gelegenheit untersuchte er auf Bitten des Schneiders einen augenkranken jungen Mann. Er stellte ein Rezept in lateinischen Worten aus und gab sich "den Anstrich einer wissenschaftlichen Bildung".28 Der Herr Doktor dilettierte mit Kenntnissen, verschwand unter dem Vorwand, ein zur Diagnose nötiges Instrument herbeischaffen zu müssen, und 'vergaß', die Kleider im Gesamtwert von ca. 40 Talern zu bezahlen.

   Über die folgenden Monate bis Mitte Dezember wissen wir wenig. Trotz zahlreicher Fahndungsmeldungen - zwischen Ende Juli und Anfang September - konnte die Polizei 'Dr. Heilig' nicht stellen. Das Auge des Gesetzes erblickte ihn nirgendwo. Doch die früher vermuteten Auslandsreisen in die Schweiz, nach Südfrankreich oder gar nach Nordafrika29 haben höchstwahrscheinlich nicht stattgefunden. Denn nach gewichtigen Anhaltspunkten hielt sich der Flüchtling "ausschließlich im südlichen Sachsen [...] und in der Umgebung von Dresden"30 auf.

   Am 16. Dezember 1864 begab sich unser 'verlorener Sohn', noch raffinierter agierend31 als in Penig, ein zweites Mal auf die 'Pirsch'. Mit kühnem Blick und sicherer Hand bewährte er sich, wie manche Helden in seinen Romanen, als glücklicher 'Pelzjäger'. In Chemnitz, im Gasthof 'Zum goldenen Anker', mietete er, für seine finsteren Zwecke recht passend, zwei miteinander verbundene Zimmer. Als 'Seminarlehrer Ferdinand Lohse aus Plauen'32 ließ er sich, im Auftrage seines 'erkrankten Herrn Direktors', vom Kürschner Oskar Nappe verschiedene Damenpelze im Gesamtwert von 94 Talern in die Gaststätte liefern. Er brachte sie ins Nebenzimmer zum 'kranken Direktor', verließ mit seiner Beute die Stadt und suchte das Weite.

   Diese und die folgenden Ereignisse hat Karl May nie wirklich vergessen. Zeitlebens haben sie ihn gequält und beschäftigt. Im Halbbewußten zumindest wirkten sie fort und zeugten neue - dichterische - Energien. In Pelztierjagden könnte der Schriftsteller speziell seine Textilienschwindel literarisch verarbeitet haben. Nach Walther Ilmer spiegelt sich, verzerrt und gebrochen, vermischt wohl auch mit anderen Bildern aus dem Vorleben Mays, das Chemnitzer Delikt im Abenteuer Sir David Lindsays, des verkleideten, eine Bärin jagenden spleenigen Englishman.33

   Mays Fluchtweg führte über Freiberg, Naußlitz und Dresden nach Leipzig. Mit Vorbedacht legte er falsche Spuren. Geschickt und erfolgreich täuschte er, beispielsweise mit einer fingierten Depesche an die Leipziger Polizei (auch seine Roman-Ganoven arbeiten mit solchen Methoden!), die Ermittlungsbehörden. Am 28. Februar 1865 erreichte er Gohlis, einen Vorort von Leipzig. Dort wohnte er bis zum 26. März beim Stahlstecher Schule, Möckernsche Straße Nr. 28b. Sein Chemnitzer Diebesgut hatte er inzwischen versetzt: für 41 Taler, weniger als die Hälfte des Wertes. Die Kleider aus Penig waren teilweise noch in seinem Besitz.


//94//

   In Leipzig leistete sich der künftige 'Old Shatterhand' den dritten ihm nachgewiesenen Betrug. Am 20. März 1865 prellte er - diesmal als 'Hermes Kupferstecher', als Gott der Diebe und König der Schwindler - den Kürschner Friedrich Erler. Um einen Biberpelz im Werte von 72 Talern hat er, sehr trickreich, den Händler erleichtert. Schon vorher hatte er sich um einen Hehler bemüht: den Meubleur Friedrich Brock. Doch diesem schien Mays Forderung (40 Taler) zu hoch. 'Hermes' suchte nach anderen Wegen. Über Frau Bayer, eine ahnungslose Mittelsperson, versetzte er am 21. März den Biberpelz im Leihhaus, das von der Polizei jedoch schon verständigt war.

   Am 26. März versuchte May, den Erlös bei Frau Bayer - über den Packträger Müller - abholen zu lassen. Müller erhielt aber "kein Geld, sondern die notwendige Aufklärung".34 Noch am selben Nachmittag wurde 'Hermes Kupferstecher' durch die Hüter der Ordnung ergriffen. Im Rosenthal, einem Parkgelände zwischen Gohlis und Leipzig, ereilte den Vagabunden das Schicksal. Nach einem kurzen Handgemenge mit dem Packträger Müller - wobei Karl May ein Beil "unter dem Rocke vorgeglitten"35 ist - wurde der Delinquent von zwei herbeieilenden Polizisten überwältigt und "mittels eines Fiakers"36 zur Behörde gebracht.

   In der Amtsstube ist er, ähnlich wie der niedergeschlagene und betäubte Kara Ben Nemsi in Sabans Hütte,37 "ganz regungslos und anscheinend leblos gewesen und hat auch, nachdem der Polizeiarzt herzugerufen wurde, nicht gesprochen".38 Erst später nannte er seinen Namen und legte ein volles Geständnis ab.



Anmerkungen


1Seitenangaben in () beziehen sich auf Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg 1910. Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim, New York 21982.
2Karl May: Der Weg zum Glück. Roman aus dem Leben Ludwig des Zweiten. Hildesheim, New York 1971 (Reprint der Dresdner Erstausgabe von 1886-88), S. 23.
3Karl May: Die Juweleninsel (1880-82). Karl Mays Werke II. 2. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1987, S. 632.
4Vgl. Klaus Hoffmann: Karl May als "Räuberhauptmann" oder Die Verfolgung rund um die sächsische Erde. Karl Mays Straftaten und sein Aufenthalt 1868-1870, 1. Teil. In: JbKMG 1972/73, S. 215-247 (S. 240); Fortsetzung im JbKMG 1975, S. 243-275 (S. 261).
5Hinweis bei Hoffmann: Ebd., S. 261. - Vgl. Karl May: Waldröschen oder die Rächerjagd rund um die Erde. Leipzig 1988 (Reprint des Dresdner Erstsatzes von 1882-84), S. 552-602 (Kapitel 'Eine Tänzerin'); ders.: Der verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends. Hildesheim, New York 1972 (Reprint der Dresdner Erstausgabe von 1883-85), S. 1130ff. (Kapitel 'Eine Balletkönigin').
6Vgl. Claus Roxin: Vorläufige Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays. In: JbKMG 1971, S. 74-109 (S. 102).
7Vgl. Karl May: Von Bagdad nach Stambul. Gesammelte Reiseromane, Bd. III. Freiburg 1892, S. 210 (entspricht dem Text der 1882 erschienenen Erzählung Die Todes-Karavane); dazu Walther Ilmer: Von Kurdistan nach Kerbela. Seelenprotokoll einer schlimmen Reise. In: JbKMG 1985, S. 263-320 (S. 295).
8Ilmer: Ebd.
9Vgl. Roxin: Bemerkungen, wie Anm. 6, S. 94.
10Hainer Plaul: Alte Spuren. Über Karl Mays Aufenthalt zwischen Mitte Dezember 1864 und Anfang Juni 1865. In: JbKMG 1972/73, S. 195-214 (S. 211).
11Roxin: Bemerkungen, wie Anm. 6, S. 89f., mit Verweis auf Lisa Barthel-Winkler: Mensch und Maske. In: KMJB 1926. Radebeul 1926, S. 131-139. - Zum Motiv des 'Inkognito' in Mays Werk vgl. Bernd Steinbrink: Vom Weg nach Dschinnistan. Initiationsmotive im Werk Karl Mays. In: JbKMG 1984, S. 231-248 (S. 238).
12Roxin: Bemerkungen, wie Anm. 6, S. 82.
13Ebd., S. 79.


//95//

14Erich Wulffen: Psychologie des Verbrechers. Ein Handbuch für Juristen, Ärzte, Pädagogen und Gebildete aller Stände, Bd. II. Berlin-Lichterfelde 1908, S. 173. - Wulffen hat sich auch später mit May sehr beschäftigt; vgl. Plaul: Karl May, wie Anm. 1, S. 374ff. (Anm. 119).
15Roxin: Bemerkungen, wie Anm. 6, S. 83.
16Ebd., S. 82.
17Ebd., S. 92.
18Ebd., S. 93.
19Ebd., S. 98.
20Walther Ilmer: Durch die sächsische Wüste zum erzgebirgischen Balkan. Karl Mays erster großer Streifzug durch seine Verfehlungen. In: JbKMG 1982, S. 97-130 (101).
21Friedrich S. Krauss: Anthropophyteia, Bd. VIII. Leipzig 1911, S. 501; wiedergegeben bei May: An die 4. Strafkammer des Königl. Landgerichtes III in Berlin. Privatdruck Stuttgart 1911. Prozeß-Schriften 3. Hrsg. von Roland Schmid. Reprint Bamberg 1982, S. 123.
22May in einer Zuschrift an die 'Freie Stimme' (Radolfzell) vom 6.1.1910; zit. nach Plaul: Karl May, wie Anm. 1, S. 504.
23Roxin: Bemerkungen, wie Anm. 6, S. 106 (Anm. 55).
24Aus einem der Ehefrau Klara diktierten Brief Karl Mays an den Maler Sascha Schneider (31.5.1905); abgedruckt bei Hansotto Hatzig: Karl May und Sascha Schneider. Dokumente einer Freundschaft. Beiträge zur Karl-May-Forschung 2. Bamberg 1967, S. 77ff. (S. 78).
25Plaul: Karl May, wie Anm. 1, S. 373 (Anm. 115).
26Zum folg. vgl. Klaus Hoffmann: Zeitgenössisches über "ein unwürdiges Glied des Lehrerstandes". Pressestimmen aus dem Königreich Sachsen 1864-1870. In: JbKMG 1971, S. 110-121 (S. 111ff); auch Plaul: Auf fremden Pfaden? Eine erste Dokumentation aber Mays Aufenthalt zwischen Ende 1862 und Ende 1864. In: JbKMG 1971, S. 144-164 (S. 158).
27Aus einem Steckbrief im Kgl. Sächsischen Gendarmerieblatt vom 23.7.1864; wiedergegeben bei Gerhard Klußmeier - Hainer Plaul (Hrsg.): Karl May. Biographie in Dokumenten und Bildern. Hildesheim, New York 1978, S. 46.
28Ebd.
29Auch diese Story geht auf Erzählungen von Gustav und Carl Traugott Urban zurück; vgl. dagegen Plaul: Auf fremden Pfaden?, wie Anm. 26, S. 158ff.
30Plaul: Ebd., S. 161.
31Vgl. Plaul: Alte Spuren, wie Anm. 10, S. 195ff.
32In Plauen gab es tatsächlich einen Seminarlehrer Lohse, der freilich mit Vornamen Ernst hieß; dieser Lehrer hatte May im Seminar unterrichtet; vgl. Plaul: Ebd., S. 196f.
33Vgl. May: Durchs wilde Kurdistan. Gesammelte Reiseromane, Bd. II. Freiburg 1892, S. 446f.; dazu Walther Ilmer: Karl Mays Weihnachten in Karl Mays 'Weihnacht!'. In: JbKMG 1987, S. 101-137 (S. 130).
34Plaul: Alte Spuren, wie Anm. 10, S. 208.
35Nach der Leipziger Polizeiakte vom 27.3.1865. - Das Beil gehörte Mays Logiswirt Schule; als Indiz für gewalttätige Absichten Mays ist es kaum zu werten; vgl. Plaul: Ebd., S. 211.
36Plaul: Ebd., S. 208.
37Vgl. Karl May: In den Schluchten des Balkan. Gesammelte Reiseromane, Bd. IV. Freiburg 1892, S. 177ff.; dazu Walther Ilmer: Das Märchen als Wahrheit - die Wahrheit als Märchen. Aus Karl Mays 'Reise-Erinnerungen' an den erzgebirgischen Balkan. In: JbKMG 1984, S. 92-138 (S. 134f., Anm. 46).
38Aus den Akten des Polizeiamtes Leipzig; zit. nach Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 33f.



6.4

Im Arbeitshaus Schloß Osterstein


Am 8. Juni 1865 wurde Karl May vom Bezirksgericht Leipzig unter Vorsitz des Gerichtsrats Hermann Gareis "wegen mehrfachen Betrugs" zu vier Jahren und einem Monat Arbeitshaus verurteilt: eine Strafe, die "heute gelegentlich für Beihilfe zum Massenmord verhängt wird".1


//96//

   Jeder Karl-May-Leser weiß: Im Werk dieses Schriftstellers gibt es stereotype Handlungsverläufe und ständig sich wiederholende Grundmotive. Zum Beispiel: Die Helden werden gefangen, nach kurzer Zeit oder einer Reihe von Jahren befreit und erneut wieder gefangen. Autobiographische Hintergründe sind, vor allem, die langen Haftzeiten Mays, das Gefängnis Schloß Osterstein (1865-68) und das Zuchthaus in Waldheim (1870-74).

   Am 14. Juni 1865 wurde May in Zwickau, im hoch umwallten, zur Anstalt umgebauten Schloß Osterstein eingeliefert. Als 'Nr. 171' fand er "eine ernste, aber keineswegs verletzende Aufnahme" (S. 126).2

   Karl May war einer von rund 2000 Insassen. Er trug die Einheitskleidung - graue Hose und Jacke, schwarzes Käppchen und Lederschuhe -, wurde wie alle Häftlinge mit 'Du' angesprochen und in die zweite Disziplinarklasse eingestuft.

   Das Arbeitshaus war die zweitschwerste Freiheitsstrafe zwischen Zuchthaus und Gefängnis. Es sollte "strengste Disziplin gefordert und Zwangsarbeit geleistet werden, aber ohne die beschimpfenden Folgen der Zuchthausstrafe und ohne die Gemeinschaft mit den schwersten Verbrechern."3

   Während der dreizehnstündigen Arbeit und der knapp bemessenen Freizeit standen die Detinierten unter dauernder Beobachtung durch die Aufsichtsbeamten. Ihren Befehlen hatten sie "unbedingten und sofortigen Gehorsam zu leisten".4

   Wie hat May diese Jahre erlebt? Wenn man die Gefängnisszenen in seinen Lieferungswerken5 autobiographisch liest, war Schloß Osterstein, in der ersten Zeit, ein Martyrium. Der Gefangene ist, so heißt es in Waldröschen, Mays erstem Kolportageroman, "kein Mensch mehr, kein freies, selbstbestimmendes Wesen; er hat keinen Namen mehr"!6

   In Mein Leben und Streben sah der Dichter die Arbeitsjahre in Zwickau allerdings positiv: Die dunklen "Stimmen" verstummten (S. 130f.), und der innerlich Gehetzte fand den Frieden mit Gott und sich selbst.

   Die allgemeinen Haftbedingungen waren relativ gut. Zwar gab es, bei Renitenz, mitunter auch harte Strafen; aber kleine Verdienstmöglichkeiten entsprechend der geleisteten Arbeit, ein überschaubares System von Verhaltensregeln, auch der Verzicht auf das Kahlscheren der Köpfe, sollten "Moral und Bewußtsein der Verurteilten aufrichten".7

   Eugène d'Alinge (1819-1894), der Anstaltsdirektor, war ein human denkender Reformer des Strafvollzugs. Dem Gesetzesbrecher hielt er grundsätzlich ein "psychisches Gebrechen"8 zugute. Sein Konzept war die Resozialisierung der Häftlinge durch Erziehung zu Ordnung und regelmäßiger Arbeit. Mit seinem Prinzip der Besserung auf dem Wege der Individualisierung9 wollte er helfen und heilen: Die Erziehung "muss, um den Verbrecher im Gefangnen zu ertödten, den Menschen erfassen [...], muß mit einem Worte das INDIVIDUUM zu treffen suchen. Allgemeine Regeln, über die Köpfe der Masse hin gepredigte Moral nützt nichts."10

   Gut gemeint war die religiöse Betreuung im Arbeitshaus. Die Teilnahme an den sonntäglichen Gottesdiensten und den werktäglichen Andachtsübungen war strenge Pflicht für alle Gefangenen. Ausdauer, bürgerliche Tugenden, "ja sogar Gottesfurcht",11 sollten zur Gewohnheit werden. Die Anordnungen sollten, nach dem Willen d'Alinges, aber nicht nur verhängt, sondern plausibel vermittelt werden.


Der Gefangne muß bei einigem Denken die Berechtigung jeder Forderung erkennen und [...] durch die Praxis erfahren: Die Grundzüge dieser Vorschriften musst du nicht blos während der Strafzeit, sondern auch nach deiner Rückkehr ins Leben beibehalten, wenn dein Leben ein [...] gesegnetes sein soll.12


//97//

   Als ehemaliger Lehrer wurde May zunächst "der Schreibstube zugeteilt. Man kann hieraus ersehen, wie fürsorglich die Verhältnisse der Gefangenen von der Direktion berücksichtigt werden." (S. 126)

   Karl May versagte jedoch:


Ich hatte als Neueingetretener das Leichteste zu tun, was es gab; aber auch das brachte ich nicht fertig. Das fiel auf. Man sagte sich, daß es mit mir eine ganz besondere Bewandtnis haben müsse, denn schreiben mußte ich doch können! Ich wurde Gegenstand besonderer Beachtung. (Ebd.)


   Eine Selbsttäuschung des Dichters ist hier nicht zu vermuten. Der Direktor sah tatsächlich "die Pflicht, sich von dem psychischen Zustande jedes Gefangnen ein möglichst klares Bild zu verschaffen."13 Mays Versagen wurde als psychische Schwäche verstanden. "Wenn zu jener Zeit überhaupt schon irgendwo im deutschen Strafvollzug die Psychologie eine gewisse Rolle gespielt hat [...], dann war es hier in Zwickau. Nicht zuletzt verfügte auch der Anstaltsarzt Dr. Saxe über einige Kenntnisse in Psychiatrie."14

   Der Versager May wurde nicht bestraft, sondern versetzt in eine andere Abteilung. In einem Arbeitslokal, das "siebzig bis achtzig Menschen" (S. 127) faßte, mußte er - als Zuarbeiter - in einer vierköpfigen Riege Geld- und Zigarrentaschen verfertigen. Wie seine weitere Entwicklung in Schloß Osterstein erkennen läßt, paßte er sich der neuen Umgebung erstaunlich gut an. "Es gab Beamte, die ich herzlich lieb gewann." (S. 122)

   Der Aufseher Friedrich Göhler, den Mays Selbstbiographie "mit großer, aufrichtiger Dankbarkeit" (S. 127) erwähnt, entdeckte die musikalischen Talente des früheren Lehrers. Im Jahre 1867 avancierte Karl May zum Bläser im Posaunenquartett und Mitglied des Anstalts-Kirchenchors. Er arrangierte Musikstücke und stieg, auf die Fürsprache Göhlers hin, in die erste Disziplinarklasse15 auf, die nur wenige Häftlinge erreichten. Mit dieser Beförderung waren für May sehr wichtige Begünstigungen verknüpft: vor allem die "Gewährung grösserer Selbstständigkeit [sic] und freierer moralischer Entwicklung".16

   Überhaupt war das Jahr 1867 für May mit einem bemerkenswerten Aufstieg verbunden. Sein Ansehen und sein Selbstbewußtsein wuchsen, und die Tätigkeit als Portefeuillearbeiter war bald schon beendet. Ende 1867 oder Anfang 1868 wurde er der "besondere Schreiber" Alexander Krells, des Inspektors der Isolierstation. Dies war, wie May betont und wie Plauls Recherchen bestätigen, die "höchste Vertrauensstelle [...], die es in der ganzen Anstalt gab" (S. 129).

   Dem Inspektor durfte May bei statistischen und literarischen Arbeiten über "das Wesen und die Aufgaben des Strafvollzuges" (ebd.) assistieren. Er gewann einen Überblick über die Verhältnisse im Zwickauer Arbeitshaus und die verschiedenen Systeme des Strafvollzugs überhaupt. Über den eigenen Platz in der Anstalt konnte er sich nun klarer werden. "Das Gefühl des blinden Ausgeliefertseins wich zunehmend einem Wissen und Bewußtwerden: der erkennende May begann über den Sträfling May langsam hinauszuwachsen [...] Die Rückeroberung des erniedrigten, ausgestoßenen Ichs [...] fing an, sich vorzubereiten. "17

   Etwa gleichzeitig mit der neuen Tätigkeit bei Inspektor Krell kam May, auf eigenen Wunsch, in die Isolierzelle. Das war, in seinem Fall, eine wesentliche Verbesserung.18 Zur Besinnung und inneren Einkehr, aber auch zur Lektüre und autodidaktischen Fortbildung waren die Voraussetzungen nun bedeutend günstiger als zuvor in der Kollektivhaft.

   Vor allem die Gefangenenbibliothek, die er (wahrscheinlich) mit zu betreuen hatte,19 bot Karl May die Gelegenheit, seine "Strafzeit in eine Studienzeit" zu verwandeln (S. 131). Nach der Selbstbiographie waren in der Bibliothek "alle Wissenschaften vertreten. Ich habe diese köstlichen, inhaltsreichen Bücher nicht nur gelesen, sondern studiert und


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sehr viel daraus gewonnen." (Ebd.) Auch mit "fremdsprachigen Grammatiken" hat er sich befaßt und "die Lesebedürfnisse der Volksseele" hat er kennengelernt. So konnte er den "eigentlichen Grund" zu den "Reisearbeiten" (S. 131f.) legen, die in den achtziger und neunziger Jahren seine Berühmtheit begründeten. Sogar seine späteren Menschheitssymbole - Winnetou, Marah Durimeh u.a. - schwebten ihm, so behauptet er (S. 136), gedanklich schon vor.

   Mays Erinnerungen an Zwickau und speziell an die "Studienzeit" sind in den wichtigen Punkten nicht unglaubwürdig. Ein Bestandskatalog der rund 4000 Bände umfassenden Anstaltsbibliothek, die May entscheidende Anregungen vermittelte, ist zwar bis heute nicht gefunden worden; eine Grob-Charakteristik der von May in Schloß Osterstein gelesenen Bücher lassen die Nachforschungen Plauls20 jedoch zu. Es waren religiöse, erd- und völkerkundliche, historische, naturgeschichtliche und belletristische Werke mit ethischer Grundtendenz. Zu den Autoren werden Erzähler wie Jeremias Gotthelf, Johann Peter Hebel und Christoph v. Schmid, der Tierforscher Alfred Brehm und die Historiker Leopold v. Ranke, Johann G. Droysen, Heinrich v. Treitschke, Heinrich v. Sybel u.a. gehört haben.

   Spätestens gegen Ende der Zwickauer Haft arbeitete May bewußt und systematisch auf seine Zukunft als Schriftsteller hin:


Ich stellte sogar ein Verzeichnis über die Titel und den Inhalt aller Reiseerzählungen auf, die ich bringen wollte. Ich bin zwar dann nicht genau nach diesem Verzeichnisse gegangen, aber es hat mir doch viel genützt, und ich zehre noch heut von Sujets, die schon damals in mir entstanden. (S. 152)


   Der Dichter meint gewiß sein - mit hoher Wahrscheinlichkeit zwischen Ende 1867 und Oktober 1868 entstandenes - Repertorium C. May21 mit 137 Titelplänen für künftige Schriften. Erhabene Vorbilder, deutsche Dichter wie Goethe und Schiller, Heine und Chamisso, Freiligrath und Platen, werden (unter Nr. 101) zitiert. Nur wenig deutet "auf jenes Genre hin, das später Mays bleibenden Ruhm begründen soll."22 May dachte damals wohl weniger an Abenteuerromane und Reiseerzählungen, sondern vorwiegend an Novellen und Humoresken, aber auch an populärwissenschaftliche Werke und religionsphilosophische Erörterungen.

   Interessant ist die Skizze Mensch und Teufel. Socialer Roman in 6 Bänden (Nr. 80). Ein bißchen naseweis und theologisch noch unausgegoren wirkt dieser Entwurf. Doch immerhin: die ebenso frommen wie - teilweise - unkonventionellen Gedanken des Buches der Liebe (1875/76),23 in gewisser Weise auch manche Ideen des prophetischen Spätwerks, sind in Mensch und Teufel schon antizipiert:


Eine Liebe, welche ewig zürnt, ist teuflisch [...] Mein Glaubensbekenntnis ist darum so: Ich glaube wohl an ein Gericht, aber nicht an eine ewige Verdammniß, an den Irrthum, aber nicht an das absolut Böse, [...] an ein ewiges Leben, aber nie an ein Auferstehen, an einen Gott, aber nimmermehr an einen Teufel [...] Die Freiheit schwingt vom Irrthum sich zur Wahrheit, und das Böse ist der einzge Weg zum Guten.


Das skizzierte Romanwerk - so heißt es bei May -


soll zeigen die Gottheit im Teufel, die Wahrheit im Irrthume, das Gute im Bösen, die Liebe im Hasse, die Ewigkeit in der Zeit, das Leben im Tode und den Himmel auf Erden und in - der Hölle. Es soll begleiten den Menschen in seiner Entwickelung [...] und Gott in seiner wahren Gestalt, als die allmächtige Liebe zeigen.24


   Es ist nicht absolut sicher, aber es spricht sehr vieles dafür, daß May im Gefängnis - über seinen Vater - schon Kontakt mit dem Dresdner Verleger Heinrich Münchmeyer hatte.25 Vor diesem Hintergrund bekommt die Behauptung der Selbstbiographie einen


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verständlichen Sinn: " [...] ich schrieb Manuskripte, um gleich nach meiner Entlassung möglichst viel Stoff zur Veröffentlichung zu haben. Kurz, ich war begeistert für mein Vorhaben und fühlte mich, obgleich ich Gefangener war, unendlich glücklich." (S 152)

   Mays vielleicht anonym oder pseudonym erschienene Arbeiten aus den Zwickauer Jahren sind, falls sie tatsächlich geschrieben und später gedruckt wurden, für uns Heutige ebenso verschollen wie eventuelle Erzählungen aus der Zeit um 1863. Die uns bekannten, mit einiger Sicherheit in Schloß Osterstein entstandenen May-Texte beschränken sich auf das Repertorium C. May, das Gedicht Weihnachtsabend und das Fragment Offene Briefe eines Gefangenen.

   In den Offenen Briefen (1868?) läßt uns Karl May einen Blick in sein Inneres werfen: "Unter den Wolken des Unglücks bin ich bleich und hager geworden und wie sich das Äußere veränderte, so ist auch der innere Mensch ruhig und still, ernst und lauter geworden. Der jugendliche Braußekopf hat sich in einen bedachtsamen und überlegten Mann verwandelt."26

   Angesichts dieser, noch im Gefängnis verfaßten, Zeilen sind auch die retrospektiven Aussagen der Autobiographie über Mays innere Entwicklung während der Haftzeit nicht von der Hand zu weisen: Obwohl "die Gesamtheit" an der Schuld des einzelnen mit beteiligt ist, stand der Häftling zu seiner persönlichen Verantwortung; er machte anderen keine Vorwürfe und hatte Verständnis für seine Richter (S. 121).

   Für Mays Werdegang war die Haft von großer Bedeutung. Er sah seinen 'Fall' exemplarisch: "Ist nicht eigentlich jeder Mensch ein Gefangener? Stecken nicht Millionen von Menschen hinter Mauern, die man zwar nicht mit den Augen sieht, die aber doch nur allzu fühlbar vorhanden sind?" (S. 134) Die qualvollen Schlösser betrachtete er als besondere Chance: "Muß nicht überhaupt bei allen Sterblichen, also bei der ganzen Menschheit, alles Niedrige gefesselt werden, damit die hierdurch die Freiheit gewinnende Seele sich zum höchsten irdischen Ideale, zur Edelmenschlichkeit, erheben könne?" (S. 135) Äußerlich sei der Gefangene, so meint der Dichter, "nicht mehr Person, sondern nur noch Sache [...] Um so kräftiger, ja ungestümer tritt seine innere Gestalt, seine Seele hervor, um sich, ihre Rechte und Bedürfnisse geltend zu machen." (S. 132)27

   Das blinde Kind hat mit der 'Seele' gesehen. Auch jetzt, "hinter Mauern", sah der innere Blick weit mehr als die leiblichen Augen. Carl Zuckmayer, der May sehr verehrte, hat es gewürdigt:


Die Kraft dieses inneren Blickes war es, die ihn durchs ganze Leben begleitete, die ihn über Not und widrige Verhältnisse siegen ließ, die ihm in einer einsamen Zelle [...] die unendliche Weite und das große, grenzenlose Schweifen schenkte, das wir alle als Wunsch und Sehnsucht im Blut haben.28



Anmerkungen


1Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 34.
2Seitenangaben in () beziehen sich auf Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg 1910. Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim, New York 21982.
3M. Koppel: Die Vorgeschichte des Zuchthauses zu Waldheim. Grundzüge der historischen Entwicklung der Zuchthausstrafe und ihrer Vollstreckung in Sachsen. Leipzig 1934, S. 114; zit. nach Hainer Plaul: "Besserung durch Individualisierung". Über Karl Mays Aufenthalt im Arbeitshaus zu Zwickau von Juni 1865 bis November 1868. In: JbKMG 1975, S. 127-199 (S. 129).
4Zit. nach Plaul, wie Anm. 3, S. 145.
5Vgl. besonders Karl May: Der verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends. Hildesheim, New York 1972 (Reprint der Dresdner Erstausgabe von 1883-85), S. 994ff.


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6Karl May: Waldröschen oder die Rächerjagd rund um die Erde, Bd. I. Leipzig 1988 (Reprint des Dresdner Erstsatzes von 1882-84), S. 184.
7Christian Heermann: Der Mann, der Old Shatterhand war. Eine Karl-May-Biographie. Berlin 1988, S. 81.
8Eugène d'Alinge: Bessrung auf dem Wege der Individualisirung. Erfahrungen eines Praktikers aber den Strafvollzug in der Gegenwart. Leipzig 1865, S. 18; zit. nach Plaul, wie Anm. 3, S. 147.
9d'Alinge, wie Anm. 8.
10Ebd., S. 20f.; zit nach Plaul, wie Anm. 3, S. 131.
11d'Alinge, wie Anm. 8, S. 47; zit. nach Plaul, wie Anm. 3, S. 134.
12d'Alinge, wie Anm. 8, S. 48; zit. nach Plaul, wie Anm. 3, S. 135.
13d'Alinge, wie Anm. 8, S. 36; zit. nach Plaul, wie Anm. 3, S. 139.
14Plaul, wie Anm. 3, S. 146.
15Näheres zu den drei Disziplinarklassen bei Plaul, wie Anm. 3, S. 136.
16d'Alinge, wie Anm. 8, S. 82; zit. nach Plaul, wie Anm. 3, S. 151.
17Plaul, wie Anm. 3, S. 154f.
18Vgl. Plaul, wie Anm. 3, S. 157ff.
19Dokumentarisch ist eine solche Tätigkeit Mays allerdings erst im Zuchthaus zu Waldheim belegt; dennoch darf Mays Behauptung "bis zu einem gewissen Grade [...] Glauben geschenkt werden." (Plaul, wie Anm. 3, S. 169).
20Vgl. Plaul, wie Anm. 3, S. 166ff.
21Karl May: Hinter den Mauern und andere Fragmente aus der Haftzeit. In: JbKMG 1971, S. 122-143 (S. 132-143).
22Heermann, wie Anm. 7, S. 83.
23Vgl. unten, S. 142f.
24May: Repertorium C. May, wie Anm. 21, S. 137f.
25Vgl. Plaul, wie Anm. 3, S. 176ff.
26May: Offene Briefe eines Gefangenen, wie Anm. 21, S. 127.
27Gert Ueding: Der Traum des Gefangenen. Geschichte und Geschichten im Werk Karl Mays. In: JbKMG 1978, S. 60-86 (S. 65f.), verweist auf Parallelen in der Literaturgeschichte, auf Beethovens Fidelio, auch auf die Philosophen Gabriel Marcel, J.P. Sartre und Ernst Bloch.
28Carl Zuckmayer: Palaver mit den jungen Kriegern über den großen Häuptling Karl May. In: KMJB 1930. Radebeul 1930, S. 35-43 (S. 37).



6.5

Das Weihnachtsgedicht


Fragt man nach den tieferen Gründen, die May seine Zwickauer Haftjahre so gut überstehen ließen, so sind - außer den Umständen, wie sie oben erörtert wurden - vor allem sein Glaube, sein 'innerer Blick', sein Gottvertrauen zu nennen.

   Die religiöse Grundeinstellung des damaligen (und des späteren) May bezeugt, neben der Skizze Mensch und Teufel, sein Gedicht mit dem Titel Weihnachtsabend. Es hat sechzehn Strophen und wurde wahrscheinlich im Advent des Jahres 1867 verfaßt.1 An der Schwelle zur baldigen Wende, zum inneren Neubeginn und äußeren Aufstieg des Häftlings bringt das Gedicht seine Reue, sein Verlangen nach Gott, erschütternd zum Ausdruck. Das Manuskript wurde im Nachlaß des Dichters gefunden. Es kann als Schlüsseltext zum Verständnis seines Lebens und Strebens, seiner innersten Not und seiner Umkehr zu Gott betrachtet werden.

   Einzelne Strophen dieses Gedichts hat May in spätere Erzählungen integriert: in die Dorfgeschichte Der Giftheiner, in die Kolportageromane Waldröschen und Der verlorene Sohn, in die Reiseerzählungen Krüger Bei2 und "Weihnacht!".3 Denn die Verse des Fünf-


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undzwanzigjährigen, die psychischen Schubkräfte, die sie ins Wort fassen, bewegten den Autor auch weiterhin.

   Was die vordergründige Handlungsebene dieses Frühwerks betrifft, hat Karl May die Interpretation - im Verlorenen Sohn - selbst geliefert.4 Die Situation: ein Gefangener (der Verfasser?) sitzt in der Zelle, isoliert im Dunkel des Raumes und frierend in seinem Gemüt. Draußen ist Heiliger Abend, und die Christen vernehmen das Wort:


"Ich verkünde große Freude,
Die Euch widerfahren ist;
Denn geboren wurde heute
Euer Heiland Jesus Christ!"


Die Menschen sind glücklich und froh:


Jubelnd klingt es durch die Sphären,
Sonnen kündens jedem Stern,
Weihrauch duftet auf Altären
Glocken klingen nah und fern.

Tageshell ists in den Räumen
Alles athmet Lust und Glück
Und an buntbehangnen Bäumen
Hängt der freudetrunkne Blick.5


Weihnachtsjubel überall! "Nur da oben in der Zelle / Ists so dunkel, ists so still." Der Gefangene ist allein, seiner quälenden Angst, seiner verzweifelten und doch schon befreienden Reue überlassen. Er denkt an seine Vergehen und hört das Brausen der Ewigkeit. Wie der 'verlorene Sohn' in der Bibel (Lk 15) sucht er Hilfe beim Vater.


Betend faltet er die Hände,
Hebt das Auge himmelan:
"Vater, gieb ein selig Ende
Daß ich ruhig sterben kann.
       Blicke auf Dein Kind hernieder
       Das sich sehnt nach Deinem Licht.
       Der Verlorne naht sich wieder,
       Geh mit ihm nicht ins Gericht."


Der kranke, von der Krankheit zum Tode bedrohte Sünder fleht um Erbarmen; er bittet um Gnade, um ein Zeichen vom Himmel. "Da erbraußt im nahen Dome / Feierlich der Orgel Klang." Und der Sträfling vernimmt den Gesang eines Chores; er hört die Worte des greisen Simeon (Lk 2, 29ff.):


"Herr, nun lässest Du in Frieden
Deinen Diener schlafen gehn,
Denn sein Auge hat hienieden
Deinen Heiland noch gesehn."


Zwischen dieser (12.) und der folgenden Strophe läßt das Manuskript einen Freiraum. Der Sünder ist, so heißt es in Mays Roman Der verlorene Sohn, gestorben. Seine Angst vor dem Tod, seine Furcht vor der Ewigkeit hat er kurz vor dem Tode verloren. Er hat die Versöhnung gefunden, den Frieden mit Gott. Für ihn, den Ärmsten, ist die Botschaft froh. Seine Nacht ist in 'Weihnacht' verwandelt. Der Gefängnispfarrer erkennt es an und bestätigt es:


Und der Priester legt die Hände
Segnend auf des Todten Haupt.
"Selig ist, wer bis ans Ende
An die ewge Liebe glaubt.


//102//

     Selig, wer aus Herzensgrunde
       Nach der Lebensquelle strebt
       Und noch in der letzten Stunde
       Seinen Blick zum Himmel hebt.

Suchtest du noch im Verscheiden
Droben den Versöhnungsstern,
Wird er dich zur Wahrheit leiten
Und zur Herrlichkeit des Herrn.
       Darum gilt auch dir die Freude,
       Die uns widerfahren ist;
       Denn geboren wurde heute
       Auch dein Heiland Jesus Christ."


Der ästhetische Wert dieser Vierzeiler interessiert hier nicht. Der reifere Schriftsteller meinte ja selbst, daß er diese Verse "verbrochen" habe.6 Um so wichtiger ist die biographische Relevanz!

   Warum läßt Karl May den Gefangenen krank sein und STERBEN? Hinter der allgemeinen Botschaft - im Tode ist Gott uns treu und auch im Sterben ist Christus der Retter - verbirgt sich noch eine zweite, eine autobiographische, dem jungen Autor (vielleicht) nicht bewußte Verstehensebene: Der Delinquent in der Zelle, der frühere May, der entlassene Schulmeister, der Augenarzt Dr. Heilig, der Seminarlehrer Lohse, der Betrüger Hermes Kupferstecher, der Sträfling Nr. 171, ist nun 'gestorben'. Der neue Karl May, der Posaunist in der Kirche, der "besondere Schreiber", der schöpferische Dichter kann nun geboren werden.

   Diese Hoffnung wird sich zunächst nicht erfüllen. Aber das Weihnachtsgedicht, der Schrei nach Erlösung, die Rettung durch Gott werden zum Leitmotiv des späteren Schaffens. Die 'Nacht' hatte Karl May in all ihren Dimensionen gekannt: als blindes Kind, als schizoider Neurotiker, als Häftling hinter den Mauern. Der 'Versöhnungsstern', der Stern zu Bethlehem, überhaupt die Gestirne7 werden für ihn zum leuchtenden Zeichen, zum Bild jener Liebe, die alles Dunkel durchbricht.

   Den Glauben an den Sieg des Lichtes über die Mächte der Finsternis wird May auch in Zukunft, in schwerster Anfechtung, bewahren:


Ich fragte zu den Sternen
       Wohl auf in stiller Nacht,
Ob dort in jenen Fernen
       Die Liebe mein gedacht.
Da kam ein Strahl hernieder,
       Hell leuchtend, in mein Herz
Und nahm alle meine Lieder
       Zu dir, Gott, himmelwärts.8



Anmerkungen


1Vgl. Hainer Plaul: "Besserung durch Individualisierung". Über Karl Mays Aufenthalt im Arbeitshaus zu Zwickau von Juni 1865 bis November 1868. In: JbKMG 1975, S. 127-199 (S. 175).
2Teile des Weihnachtsgedichts finden sich im Krüger Bei-Kapitel 'In der Heimath', das vom Redakteur des 'Deutschen Hausschatzes' gestrichen wurde; vgl. unten, S. 247ff.
3Näheres bei Roland Schmid: Anhang (zu "Weihnacht!"). In: Karl May: Freiburger Erstausgaben, Bd. XXIV. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1984, A 1-19.
4Vgl. Karl May: Der verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends. Hildesheim, New York 1972 (Reprint der Dresdner Erstausgabe von 1883-85), S. 452ff.; dazu Schmid, wie Anm. 3, A 9ff.


//103//

5Der vollständige Text findet sich bei May: Hinter den Mauern und andere Fragmente aus der Haftzeit. In: JbKMG 1971, S. 122-143 (S. 125f.).
6Karl May: "Weihnacht!". Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXIV. Freiburg 1897, S. 3 - Vgl. Heinz Stolte: Der Fiedler auf dem Dach. Gehalt und Gestalt des Romans "Weihnacht!" .In: JbKMG 1986, S. 9-32 (S. 21).
7Vgl. Werner Tippel: "Himmel und Erde". Karl Mays astronomisches Weltbild. In: MKMG 52 (1982), S. 23-28; Hartmut Wörner: Karl Mays astronomisches Weltbild. Astrophilosophie in Karl Mays Werken. In: MKMG 53 (1982), S. 5-14.
8Karl May: Am Jenseits. Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXV. Freiburg 1899, S. 133 -Als erste Strophe des Gedichts 'Widmung' hat May diese Verse seinen Himmelsgedanken (Freiburg 1900) vorangestellt.



6.6

Zurück in die Ernstthaler 'Sümpfe'


Im Arbeitshaus war man mit May sehr zufrieden. Er hatte "Beweise seiner Besserung"1 erbracht, und die Anstaltsleitung wurde zugunsten des Häftlings aktiv. Ausgestattet mit Reisegeld, dem Heimatschein und einem besonderen Vertrauenszeugnis wurde May am 2. November 1868 "in Folge Allerhöchster Gnade" (König Johanns von Sachsen) vorzeitig entlassen - 253 Tage früher als vom Bezirksgericht Leipzig einst vorgesehen.

   Das Vertrauenszeugnis ersparte May eine offizielle Polizeiaufsicht und erlaubte ihm die freie Wahl seines Wohnsitzes.2 Die Zukunftsprognose schien günstig!


Es war ein schöner, warmer Sonnentag, als ich die Anstalt verließ, zum Kampfe gegen des Lebens Widerstand mit meinen Manuskripten bewaffnet [...] Ich ging von Zwickau nach Ernsttal [sic], also genau denselben Weg, den ich damals als Knabe gegangen war, um in Spanien nach Hilfe zu suchen. Es läßt sich denken, was für Gedanken mich auf diesem Weg begleiteten. (S. 153)3


   Sechsundzwanzig Jahre war der reuige, moralisch gebesserte Sünder nun alt. Mit Vorwürfen von seiten der Eltern und Geschwister hatte er nicht zu rechnen; "dies war ja schon längst durch Briefe geordnet". (S. 153) Den Seinen war er, der Selbstbiographie zufolge, willkommen. Nur - die Märchengroßmutter war tot! Am 19. September 1865 ist sie gestorben. May erfuhr es, zu seinem Schrecken, erst jetzt. Er sah sich wieder verlassen. Von der übrigen Familie, vor allem der Mutter, fühlte er sich geliebt, aber nicht wirklich verstanden. Mit seinen Träumen war er allein:


Vater hatte jetzt Anderes zu denken. Er war in einer Art sozialer Mauserung begriffen und darum für mich nicht zu haben, zumal er des Abends nie daheim blieb. Auch die Schwestern hatten andere Interessen. Mein ganzer Gedankenkreis war ihnen fremd. So blieb mir nur die Mutter [...] Aber auch sie verstand mich nicht [...] Ich aber fühlte mich einsam, einsam wie immer. (S. 160)


   Zu einem pubertären Gemüt passen solche Empfindungen gut. May war geistig begabt, war hochtalentiert. Aber in der psychischen Entwicklung, im seelischen Reifungsprozeß war er, nach Roxin, doch zurückgeblieben.4 Die narzißtische Isolation, die einer der Gründe für seine Straftaten war, hatte er noch nicht überwunden.

   Bis etwa Anfang April 1869 hatte May bei den Eltern in Ernstthal seinen ständigen Wohnsitz. Dann ging er fort. Das Unglück sollte sich, wie schon oft, wiederholen und steigern. So war es bisher gewesen: Jedes Delikt zeugte, durch die Strafe, das nächste Vergehen. Dieses Gesetz schien immer noch wirksam. In der "brutal" langen Haft sah Wollschläger einen Grund für weiteres Unheil.5 Die 'dunklen Stimmen', die sich bei May wieder meldeten, sind - nach Wollschläger - Projektionen eines unbewußten Konflikts: des Widerstreits einer verworrenen, um sich selbst kreisenden Seele mit der kalten, nüchternen Welt.6


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   Aus den literarischen Plänen wurde jetzt nichts. Von den Arbeiten, die er - nach seiner Aussage vom 3. Juli 1869 - "für den Dresdner Buchhändler Münchmeier [...] geliefert"7 hat, konnte May wohl nur wenige unterbringen. Münchmeyers Verlag hatte noch nicht die nötige Kapazität, um May die materielle Sicherheit und, damit verbunden, die Voraussetzung für eine kontinuierliche literarische Tätigkeit bieten zu können.8 Auch diese Enttäuschung dürfte eine, vielleicht entscheidende, Vorbedingung für den Rückfall Mays ins kriminelle Verhalten gewesen sein.

   Es begann, erneut und verstärkt, das frühere Elend. Die bösen "Stimmen" wurden wieder beherrschend. Sie "waren bemüht, mich mit aller Gewalt in die Vergangenheit zurückzuzerren. Sie verlangten wie früher, daß ich mich rächen solle. Nun erst recht mich rächen, für die im Gefängnis verlorene, köstliche Zeit!" (S. 157)

   Mays späte Schilderung ist, wie gesagt, ungenau und verschämt. Er litt - 1910 - entsetzlich darunter, daß seine Vergangenheit, nach so vielen Jahren der Wiedergutmachung, durch die Presse gewalzt und, überdies, noch böswillig entstellt9 wurde.

   Mit Rückbezug auf die Straftäterzeit, aber auch im Blick auf die Gegenwart (1910) schrieb May in der Selbstbiographie:


Das "Märchen von Sitara"10 tauchte vor mir auf. Gehörte ich vielleicht zu denen, auf deren Seelen, wenn sie geboren werden, der Teufel wartet, um sie in das Elend zu schleudern, so daß sie verloren gehen? Alles Sträuben und Aufbäumen hilft nichts; sie sind dem Untergange geweiht. Gilt das auch mir? (S. 153f.)


   Lag tatsächlich eine Art 'Fluch' über Mays Leben? Der Schriftsteller glaubte an Gott und nicht an den Teufel; aber die Bedrängnis war, damals wie später, sehr groß.

   Vom Proletariat, den Ernstthaler Webern und Strumpfwirkern, wurde der Strafentlassene - nach Hainer Plaul - "nicht geächtet, nicht verachtet, nicht ausgeschlossen".11 Doch May war sensibel: "Das Publicum hat gegen jeden entlassenen Sträfling ein scharfes Vorurtheil"!12 Karl May jedenfalls hatte es so empfunden: "Die Augen hingen an mir, wo ich mich sehen ließ" (S. 162).

   In Ernstthal gab es die "Lügenschmiede".13 Dort wurden Gerüchte gesammelt, und manches wurde hinzugedichtet. Alle möglichen Spitzbübereien, Einbrüche zum Beispiel, wurden May wieder angehängt - auch von der örtlichen Polizei. Er "lachte äußerlich" über solche Beschuldigungen;


innerlich aber war ich empört, und es gab einige schwere Nächte. Es brüllte vom Abend bis zum Morgen in meinem Innern. Die Stimmen schrieen mir zu: "Wehre dich, wie du willst, wir geben dich nicht los! Du gehörst zu uns! [...] Du bist vor der Welt ein Schurke und mußt ein Schurke bleiben, wenn du Ruhe haben willst!" (S. 161 f.)


   Wie sah es im Herzen dieses Menschen wohl aus? May schreibt mit Vorliebe in Symbolen, in Schlüsselbildern für Ängste und Sehnsüchte, die ja ebenso zum Dasein gehören wie datierbare Fakten. Ein sprechendes Bild für den Ekel, den May vor sich selbst - vermutlich - empfand:


Ich eilte fort und kam an ein Rübenfeld. Ich hatte Hunger und zog eine Rübe heraus [...] Die Stimmen [...] höhnten unaufhörlich "Du bist ein Vieh geworden, frissest Rüben, Rüben, Rüben!" (S. 164) Ich war allein und griff mir mit beiden Händen nach dem Kopfe. Ich fühlte da ganz deutlich die dicke Lehm- und Häckselschicht. Dieser Mensch, der da stand, war doch nicht etwa ich? An den die eigene Mutter nicht mehr glaubte?14 Wer war der Kerl, der in seiner schmutzigen, verknitterten Kleidung aussah, wie ein Vagabund? Hinaus mit ihm, hinaus! Fort, fort! (S. 167)


   'Seelenprotokolle', getarnte und verschlüsselte Niederschriften des damaligen Geschehens finden wir in mehreren Karl-May-Texten - auch in Erzählungen, die wesentlich früher als die Selbstbiographie entstanden sind. So heißt es in der Todes-Karavane (1882):


//105//

"Es war mir, als ob ich allmählich tiefer und immer tiefer sinke, in einen nebligen und dann immer schwärzer werdenden Schlund hinab. Da gab es keinen Halt, kein Ende, keinen Boden, die Tiefe war unendlich -"15

   Menschliches Sein ist nie bloße Gegenwart. Es behält, als bleibende Verheißung oder latente Drohung, seine Vergangenheit, seine (erlöste oder unerlöste) Geschichte:


Es kam mir vor, als ob die innern Gestalten aus mir herausgetreten seien und neben mir herliefen. Voran der fromme Seminardirektor, dann der Buchhalter, der mir seine Uhr nicht geborgt haben wollte, eine Rotte von Kegelschiebern [...] und hierauf die Raubritter, Räuber, Mönche, Nonnen, Geister und Gespenster aus der Hohensteiner Schundbibliothek. Das verfolgte mich hin und her; das jagte mich auf und ab. Das schrie und jubelte und höhnte, daß mir die Ohren gellten. Als die Sonne aufging, fand ich mich im Innern eines tiefen, steilen Steinbruches emporkletternd. Ich [...] konnte nicht weiter [...] Da klebte ich zwischen Himmel und Erde, bis die Arbeiter kamen und mich mit Hilfe einiger Leitern herunterholten. (S. 163)


   Bleibend und dennoch verwandlungsfähig ist die Vergangenheit immer präsent. Das Heutige, das Gewesene und - in gewisser Weise - auch das Kommende sind in der Seele des Menschen versammelt. Als Metapher für früheres Unheil, aber auch für Verhängnisse, die sich (1869 und später) ankündigen wollten, könnte man die 'Hausbrand'-Szene interpretieren: Als "ich unter den Bäumen hervortrat, sah ich den Himmel blutigrot; ein Qualm stieg zu ihm auf. Sicherlich war da ein Feuer [...] Zwar brannte ein Haus; aber das Feuer war in mir." (S. 164)16

   Bildhaft und doch realistisch beschreibt Karl May den inneren Zusammenbruch: "Ich lehnte mich an die Mauer des Gottesackers und weinte [...] Diese Tränen waren keine erlösenden." (S. 165)



Anmerkungen


1Zit. nach Klaus Hoffmann: Karl May als "Räuberhauptmann" oder die Verfolgung rund um die sächsische Erde. Karl Mays Straftaten und sein Aufenthalt 1868 bis 1870, 1. Teil. In: JbKMG 1972/73, S. 215-247 (S. 215).
2Vgl. Hainer Plaul: "Besserung durch Individualisierung". Über Karl Mays Aufenthalt im Arbeitshaus zu Zwickau von Juni 1865 bis November 1868. In: JbKMG 1975, S. 127-199 (S. 162).
3Seitenangaben in () beziehen sich auf Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg 1910. Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim, New York 21982.
4Vgl. Claus Roxin-. Vorläufige Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays. In: JbKMG 1971, S. 74- 109 (S. 98f.).
5Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 35.
6Vgl. Hans Wollschläger: "Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt". Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays. In: JbKMG 1972/73, S. 11-92 (S. 44ff.).
7Zit. nach Hoffmann, wie Anm. 1, S. 215; vgl. oben, S. 99.
8Vgl. Plaul: "Besserung", wie Anm. 2, S. 187f.
9Vgl. unten, S. 529f.
10Vgl. May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 3, S. 1-7.
11Hainer Plaul: Redakteur auf Zeit. Über Karl Mays Aufenthalt und Tätigkeit von Mai 1874 bis Dezember 1877. In: JbKMG 1977, S. 114-217 (S. 123, mit Bezug auf Mays Entlassung aus dem Zuchthaus zu Waldheim).
12Karl May: Der verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends. Hildesheim, New York 1972 (Reprint der Dresdner Erstausgabe von 1883-85), S. 998.
13Genaueres bei Plaul: Karl May, wie Anm. 3, S. 360ff. (Anm. 81-85).
14Auf Zweifel der Mutter an seiner Unschuld (Mein Leben und Streben, wie Anm. 3, S. 166) spielt May hier an. - Vgl. unten, Anm. 16.
15Karl May: Von Bagdad nach Stambul. Gesammelte Reiseromane, Bd. 111. Freiburg 1892, S. 329 (entspricht der 1882 bei Pustet erschienenen Erzählung Die Todes-Karavane); dazu


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Walther Ilmer: Von Kurdistan nach Kerbela. Seelenprotokoll einer schlimmen Reise. In: JbKMG 1985, S. 263-320 (S. 263).
16Die Authentizität und die Deutung dieser Hausbrandszene sind umstritten; vgl. Wollschläger: Spaltung, wie Anm. 6, S. 21ff.; Claus Roxin: Mays Leben. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 62-123 (S. 82). - Nach Mein Leben und Streben, wie Anm. 3, S. 166, wurde May der Brandstiftung bezichtigt. Von der Polizei und der Staatsanwaltschaft wurde eine derartige Beschuldigung aber nie erhoben; vgl. Plaul: Karl May, wie Anm. 3, S. 383 (Anm. 140).



6.7

Auguste Gräßler und andere Bekanntschaften


Die äußeren Umstände erklären Mays Rückfalldelikte nur unzureichend. Die Wirkkräfte, die sein Schicksal bestimmten, lagen in May selbst,1 in seinem 'gebrochenen' Wesen. Die entscheidenden Faktoren waren (wie 1864/65) ein verstörtes Gemüt, ein seelischer Entwicklungsrückstand, eine groteske Phantasie, ein pseudologischer Trieb, die materiellen Probleme, vielleicht auch der Alkohol,2 vielleicht auch erotische Abhängigkeiten in Verbindung mit narzißtischer Geltungssucht.

   Zu Beginn seiner zweiten Deliktserie, im Frühjahr 1869 oder schon früher, lernte May eine "Geliebte",3 das Dienstmädchen Auguste Gräßler (geb. 1848) aus Raschau, kennen. Nach der Entlassung aus dem Arbeitshaus hatte er, von Ernstthal aus, kleinere Reisen, wahrscheinlich nach Dresden zum Kolportageverleger Heinrich Münchmeyer,4 unternommen. Hinzu kamen Ausflüge in die Randgebiete des Erzgebirges. In der Nähe von Schwarzenberg, einem Städtchen etwa 70 Kilometer von Ernstthal entfernt, traf er Auguste so oft es ihm möglich war. Daß er Geld für sie brauchte (Bahnreisen waren teuer für May), ist eine naheliegende Annahme.

   Könnte in Auguste Gräßler ein, wenn auch sekundäres, Motiv für die weiteren Verfehlungen Karl Mays zu finden sein? Denkbar wäre es schon: "Ja, ich will für Dich zum Spitzbuben, Schinderhannes und bayrischen Hiesel werden. Ich will!"5 Der Jäger Sam Barth sagt's - freilich scherzhaft - zu Karpala, dem Engel der Verbannten: in Mays Roman Deutsche Herzen - Deutsche Helden.

   Seinen 'Schatz' konnte May nicht behalten. In Der Weg zum Glück gibt die Sennerin Leni dem Krikelanton zu bedenken: "Schau, Du bist so ein sauberer Bub und ein guter dazu [...] Aber Du gehst auf dunklen Wegen, und überall ist die Polizei hinter Dir. Dein Dirndl befand sich stets in der Gefahr, auch mit auf das Amt zu müssen."6

   Zu Pfingsten, Mitte Mai 1869, hatten Karl und Auguste sich zum letzten Mal getroffen. Am 10. Juli wurde das Mädchen polizeilich verhört. Auch eine Hausdurchsuchung hat es gegeben. Daß Auguste über die Heldentaten ihres 'Geliebten' Bescheid wisse und von May gestohlene 'Reichtümer' besitze, wurde vermutet. Aber die Durchsuchung blieb ohne Ergebnis.7

   Nach den Anhaltspunkten Klaus Hoffmanns spielten zu dieser Zeit noch weitere Liebschaften - womöglich erneut auch mit Anna Preßler, deren Ehe mißlang und im März 1871 geschieden wurde8 - eine "nicht zu unterschätzende"9 Rolle. Sie könnten May zu den Ausflügen und "Reisen" bewegt haben, die in der Selbstbiographie mehrmals erwähnt werden. Sein Theaterbesuch im Mai 1869 in Jöhstadt könnte mit der Ballett-Dame zusammenhängen, die er (nach Hoffmann) seit 1863 kannte und deren Beziehung zu May in den Romanen Waldröschen und Der verlorene Sohn sich dann spiegeln dürfte.10 Und die bereits erwähnte Malwine Rosalie Wadenbach (geb. 1819) half ihm bei seinen Fluchtreisen - im Herbst 1869 - möglicherweise mit Geld aus. Sie und ihre Tochter hatten für May "mit


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einiger Wahrscheinlichkeit"11 schon in der ersten Hälfte der sechziger Jahre eine besondere Bedeutung. Im Spätherbst des Jahres 1869 dürfte dieses 'Verhältnis' aber getrübt und folglich beendet worden sein.

   May wirkte auf Frauen und er wird es genossen haben. Freilich wiederholte sich, in einer neuen Variante, auch diesmal die 'Urszene':12 Eine Frau, Malwine Wadenbach, die dem Alter nach seine Mutter hätte sein können, nahm ihre Liebe - falls dieses Wort hier berechtigt ist - zurück. Durch ihre belastende Aussage im Januar 1870 (später wird davon noch die Rede sein) distanzierte sie sich dann endgültig von May.13

   Allerdings muß auch hier, wie zur 'Affäre' mit Henriette Meinhold,14 gesagt werden: Wie tiefgreifend und folgenschwer diese Erlebnisse nun wirklich gewesen sind, ist schwer zu bestimmen. Für sichere Schlüsse, für zweifelsfreie biographische Wertungen ist unser Wissen zu vage und lückenhaft.

   Mein Leben und Streben verschweigt diese Frauengeschichten. Die Erzählwerke verraten, als Seelenprotokolle und heimliche 'Beichten', wohl mehr. In den erzgebirgischen Dorfgeschichten, den frühesten Romanen und - erst recht - den Kolportagewerken des Dichters gibt es schöne Frauen und hübsche Mädchen in galaktischer Fülle.15 Das mag, zum Teil, mit der Eigenart der 'Trivialliteratur' zu erklären sein. Doch der biographische Hintergrund darf nicht übersehen werden: An Anna Preßler und Henriette Meinhold, an Auguste Gräßler16 und Malwine Wadenbach,17 an die Balletteuse und auch noch an weitere Frauen (aus späterer Zeit) wird der Autor gedacht haben. Ihre - und Emma Pollmers, der Ehefrau18 - Bilder verschmelzen in den Romanen zur 'Anima', zur Ideal-Frau schlechthin (und manchmal auch zur bösen Megäre oder betörenden Sirene).

   Zählt man die Frauen zusammen, die in Mays Leben eine größere Rolle gespielt haben, kommt man auf eine stattliche Zahl. Ein feuriger Casanova, ein bedenkenloser Don Juan wird May jedoch nie gewesen sein. Er sehnte sich nach weiblicher Nähe, aber bisher wohl ohne wirkliches Glück. In den Offenen Briefen eines Gefangenen, etwa ein Jahr vor seiner - auch wieder glücklosen - Begegnung mit Auguste Gräßler, schrieb der Häftling in Zwickau: Nie habe ihm "ein liebend Auge [...] lachen, nie ein warmes Herz [...] schlagen dürfen"; und nie habe er "ein Wesen gefunden, welches ich mit vollem Vertrauen und mit unerschütterlichem Glauben in meine Arme hätte nehmen können. "19

   Ob der Vagant und Straftäter May zu einer reiferen Bindung überhaupt fähig war, ist sehr zu bezweifeln. Die Verhältnisse waren widrig, sein Charakter geschädigt und seine Gemütsverfassung am Tiefpunkt.



Anmerkungen


1Vgl. Heinz Stolte: Hiob May. In: JbKMG 1985, S. 63-84 (S. 68).
2Vgl. Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg 1910. Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim, New York 21982, S. 159: "Der Abscheu vor Branntwein ist mir angeboren [...] Jetzt aber fühlte ich seltsamer Weise stets großen Durst." - Vgl. Walther Ilmer: Karl Mays Weihnachten in Karl Mays "Weihnacht!" II. Eine Spurenlese auf der Suche nach Fährten. In: JbKMG 1988, S. 209-247 (S. 236).
3So heißt es im Bericht des Stadtwachtmeisters Laukner (Hohenstein) vom 6.7.1869; zit. nach Klaus Hoffmann: Karl May als "Räuberhauptmann" oder Die Verfolgung rund um die sächsische Erde. Karl Mays Straftaten und sein Aufenthalt 1868-1870, 1. Teil. In: JbKMG 1972/73, S. 215-247 (S. 216).
4Vgl. Hoffmann: Karl May als "Räuberhauptmann", wie Anm. 3, S. 215f.
5Karl May: Deutsche Herzen - Deutsche Helden. Bamberg 1976 (Reprint der Dresdner Erstausgabe von 1885-87), S. 1794.


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6Karl May: Der Weg zum Glück. Roman aus dem Leben Ludwig des Zweiten. Hildesheirn, New York 1971 (Reprint der Dresdner Erstausgabe von 1886-88), S. 3 1.
7Vgl. Hoffmann: Karl May als "Räuberhauptmann", wie Anm. 3, S. 233.
8Vgl. Hoffmann: Karl May als "Räuberhauptmann... " 2. Teil. In: JbKMG 1975, S. 243-275 (S.262).
9Ebd., S. 261.
10Vgl. oben, S. 94 (Anm. 5).
11Wie Anm. 9.
12Vgl. oben, S. 43 u. S. 64f.
13Vgl. unten, S. 116.
14Vgl. oben, S. 73ff.
15Vgl. Werner Tippel - Hartmut Wörner: Frauen in Karl Mays Werk. SKMG Nr. 29 (1981).
16Von einer Auguste - als in Amerika wiedergefundener Jugendfreundin Sam Barths - erzählt May: Deutsche Herzen, wie Anm. 5, S. 968ff. u. pass. - Ob sich Auguste Gräßler (teilweise) hier spiegelt, ist allerdings ungewiß.
17Zu möglichen Spiegelungen Malwine Wadenbachs (und deren Tochter) in Mays großem Orientzyklus (vgl. Karl May: Gesammelte Reiseromane, Bd. 1 u. Bd. IV) vgl. Walther Ilmer: Das Märchen als Wahrheit - die Wahrheit als Märchen. Aus Karl Mays 'Reise-Erinnerungen' an den erzgebirgischen Balkan. In: JbKMG 1984, S. 92-138 (S. 100ff.).
18Vgl. unten, S. 156f.
19Karl May: Hinter den Mauern und andere Fragmente aus der Haftzeit. In: JbKMG 1971, S. 122-143 (S. 128).



6.8

Die Rückfalldelikte (1869)


Der ehemalige Arbeitshäusler ist wieder - so May in Mein Leben und Streben -


fortgegangen. Wohin? Die Erinnerung läßt mich im Stich. Ich war wieder krank wie damals [...] Wenn ich mir Mühe gebe, mich auf jene Zeit zu besinnen, so ist es mir wie Einem, der vor fünfzig Jahren irgend ein Theaterstück gesehen hat und nach dieser Zeit noch wissen soll, was von Augenblick zu Augenblick geschah und wie die Kulissen sich verwandelten. Einzelne Bilder sind mir geblieben [...] Ich habe in jener Zeit jenen dunkeln Gestalten gehorcht, welche in mir wohnten und mich beherrschten. Was ich getan habe, erscheint jedem Unbefangenen unglaublich.1


   Was da in Wirklichkeit passierte, ist eine dreiste und tolle Geschichte. Fast "komödiantische Züge",2 Euphorie und Schelmerei treten - wie 1864/65 - hervor. Der materielle Schaden, den Karl May jetzt anrichtete, war vergleichsweise gering: ca. 300 Mark. Es schien mehr um Protest und Rebellion, auch um Lustgewinn, um "Selbstbestätigung und Verspottung der Umwelt zu gehen"3 als um den materiellen Gewinn. Aber der Ernst ging mit: Ein Stigmatisierter wurde zum zweiten Mal zum Gesetzesbrecher. Ein Getretener, ein Beleidigter suchte fiktiv zu erhaschen, was die Realität ihm versagt hat: Anerkennung und Ehre, Namen und Rang.

   Die 'Sturm- und Drangjahre' gehören zu May und seiner Geschichte. Sie sind ein erlösungsbedürftiger Teil seiner selbst, seiner narzißtischen Isolierung und seiner schöpferischen Entwicklung. Ob im theologischen Sinne von Schuld, von wirklicher und schwerwiegender Schuld die Rede sein kann, ist - wie schon angesprochen - eine schwierige Frage. Dokumentiert sind die äußeren Fakten; der Schluß auf die Psyche des 'Helden' liegt nahe, bleibt aber letztlich doch hypothetisch. Eine Verwirrung, eine Krankheit im klinischen, die Schuldfähigkeit zumindest einschränkenden Sinne (§ 51 StGB) ist keineswegs auszuschließen.4 Roxin schreibt: "Nach den heutigen Maßstäben der forensischen Psychologie und Psychiatrie würde May wohl eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit (mit entsprechender Strafmilderung) zugebilligt werden."5


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   Ob er nun schuldig war oder nicht - Karl May hat gesühnt, hat mehrfach gesühnt. Trotzdem wurde alles, Jahrzehnte danach, ins häßlichste Licht gezerrt und durch zusätzlich erfundene Geschichten6 noch gewaltig vergröbert.

   Zu den Daten und Ereignissen, soweit sie bekannt sind:7 Am 29. März 1869 'ermittelt' May wegen 'Falschgeldes'. Sein Opfer: der Händler und Strumpfwirker Carl Reimann. Als 'Polizeilieutenant von Wolframsdorf aus Leipzig' versetzt er in Wiederau bei Mittweida den "stramm stehenden"8 Reimann samt Familie in Ehrfurcht und Schrecken. Ein Zehntalerschein, einige Silberlinge und eine Taschenuhr (!) werden 'beschlagnahmt'. Widerstand gibt es nicht; denn der Krämer scheint geistig beschränkt und "den 'Leutnantston' beherrschte May [...] virtuos"9 - wie bei Zuckmayer der Hauptmann von Köpenick. Unter dem Vorwand, den Händler zur Gendarmerie bringen zu wollen, führt der 'Leutnant' ihn ab nach Claußnitz, wo das 'Verhör' stattfinden solle. Zu Claußnitz läßt er den Krämer in einem Gasthofe warten - und entschwindet dann spurlos. Nach einigen Stunden erkundigt sich Reimann nach dem Zeitpunkt der 'Untersuchung'; und niemand kann ihm Bescheid geben.

   Nicht so erfolgreich treibt es May am 10. April: Als 'Mitglied der Geheimpolizei' fahndet er wieder nach 'Blüten'. In Ponitz bei Meerane (Sachsen-Altenburg) will er den Seilermeister August Krause um 30 Taler erleichtern. Der 'Geheime' nimmt das 'Falschgeld' in Empfang und fordert den 'Delinquenten' dann auf, ihn zum Gerichtsamt in Crimmitschau zu begleiten. Unterwegs ergreift er "plötzlich querfeldein die Flucht",10 wird von Krause und einem Helfer verfolgt, wirft das Geld auf den Boden, zieht in der Panik ein (wahrscheinlich ungeladenes) Doppel-Terzerol,11 hält die Verfolger in Schach und entweicht. In jeder 'Reiseerzählung' des Schriftstellers kehrt dieses Schußwaffen-Motiv, in allen möglichen Varianten, dann wieder.

   Am 12. April taucht Karl May in Ernstthal auf, muß aber baldigst verschwinden. Obergendarm Karl Prasser aus Rochlitz, der schon 1865 den Kleiderschwindler 'Dr. Heilig' entlarvt hat12 und auch jetzt wieder alles erkundet, meldet der Obrigkeit: "May hält sich bei seinen Eltern in Ernstthal auf. Entschuldigt sich angeblich mit litterarischen Arbeiten, verreist zeitweilig".13 Man schöpfte Verdacht; fünf Tage später ließ Staatsanwalt Taube (Mittweida) nach Karl May fahnden.

   Am 18. April fährt der Gesuchte zu seiner Auguste nach Schwarzenberg, bleibt über Nacht und besucht am nächsten Tag Bad Ottenstein. Dort macht er, laut eigener Angabe, die Bekanntschaft von zwei Nordamerikanern. Am 20. April schickt er den Eltern von Leipzig aus einen Brief: Er habe Mr. Burton und dessen Sohn kennengelernt; bei ihnen könne er, in Pittsburg/USA,14 Hauslehrer werden.15 "Ein guter Schriftsteller muß die Welt kennen [...] Ich reise ab; man wird meine Vergangenheit vergessen und verzeihen, und als ein neuer Mensch mit einer besseren Zukunft komme ich wieder."16 In Bremen kehrt er, wegen Paßschwierigkeiten vermutlich, dann um. Ende April wird er wieder in Sachsen gewesen sein - um auch weiterhin verbotene Wege zu gehen.

   Anfang Mai treibt er sich in Jöhstadt an der böhmischen Grenze und am 27./28. Mai wieder in Ernstthal herum. An beiden Orten begeht er 'Schwindeleien', die diesmal vermutlich keine wirklichen Straftaten sind. Denn mit den 'Opfern' steht er wahrscheinlich im Einvernehmen. In Jöhstadt, wo er am 3. Mai das Theater besucht, hat ihn sein Verwandter, der Schneider Johann Hoppe, mit neuen Kleidern versorgt. In Ernstthal verbirgt sich May im Hause des Taufpaten, des Huf- und Waffenschmieds Christian Weißpflog. Dieser überläßt ihm (falls es nicht doch ein Diebstahl von seiten Mays war) einen Kinderwagen, eine Schirmlampe, eine Brille mit Futteral, zwei Geldtäschchen mit zwei Talern


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Inhalt, verschiedenen Kleinkram und "60 bis 70 Stück Dittriche".17 Im Kinderwagen bringt May dies alles in eine 'Eisenhöhle' (nördlich von Hohenstein), was von einem Nachbarn beobachtet wird. Der Vorfall ist schwer zu erklären. Der 'Kleiderschwindel' in Jöhstadt und der 'Diebstahl' in Ernstthal sind wohl, um Wochen verspätet, "von den Betroffenen nur deshalb angezeigt worden, um nicht in den Verdacht der Begünstigung zu geraten!"18

   Am 31.5. nimmt Karl May im Restaurant des Viktor Wünschmann zu Limbach (bei Ernstthal) einen Satz Billardkugeln mit. Für fünf Täler kann er sie in Chemnitz verkaufen. Zwei Polizisten kommt die Sache verdächtig vor, und May sucht sein Heil in der Flucht.

   In der Nacht vom 3. zum 4. Juni stiehlt er in Bräunsdorf dem Gastwirt Johann Schreier ein Pferd samt Trense und Peitsche im Schätzwert von 65 Tälern. Als er es in Höckendorf dem Schlächter Voigt für 15 Täler verkaufen will, muß er erneut - wie die Pferdediebe in seinen Abenteuergeschichten (z.B. der Waffenschmied Deselim)19 - die Flucht ergreifen: Der Eigentümer ist ihm gefolgt und verlangt nun sein Roß. Schleunigst und ohne das Kaufgeld erhalten zu haben, nimmt unser Reitersmann, per pedes, "in Richtung auf Schindmaas zu Reißaus".20 Im Steckbrief wird er folgendermaßen beschrieben: schmächtige Statur; blasses Gesicht; lange Haare; dunkles Schnurrbärtchen mit Lippenbart; Dialekt der Glauchauer Gegend.21

   Der nächste Fall: Eine auf den 24.5. datierte Vollmacht hat Karl May mit eigenen Händen gefälscht. Er unterschreibt sie mit 'Heinrich von Sybel, sächsischer General-Consul' (den Namen kannte er von seinen Studien im Zwickauer Gefängnis her). Einen gewissen 'Dr. Schaffrath, Advokat aus Dresden' ermächtigt dieses Certifikat, nach den sächsischen Erben eines in Cincinnati verstorbenen Geschäftsmannes zu forschen: auch dies ein Motiv, das May - wie alle seine Delikte - literarisch verwertet hat.22

   Eine Benutzung dieses Papiers, ein betrügerisches Handeln zum Nachteil tatsächlicher Erben (etwa der Familie Albani in Ernstthal),23 ist nicht unbedingt auszuschließen; doch ein Beweis war nicht zu erbringen. Was feststeht, ist lediglich dies: Am 15. Juni erscheint Karl May als 'Beauftragter Dr. Schaffraths' dem Bäckermeister Christian Wappler in Mülsen St. Jakob (bei Glauchau). Mit der Nachricht, der Bäcker habe einen Verwandten in Amerika beerbt, schickt er den glücklichen Wappler und dessen drei Söhne nach Glauchau. Die Ehefrau und eine Schwiegertochter bleiben zurück. Den verblüfften Damen gibt May sich als 'höherer Beamter der geheimen Polizei' zu erkennen. Er recherchiert wieder nach Falschmünzerei; und 28 Täler werden kassiert.

   Immer dreister wird nun der Schelm. Die Satire, die Verhöhnung des Polizeistaates, aber auch die Rollenspiele als solche, das 'Theater', der "inszenatorische Aufwand"24 werden zum Selbstzweck. Es ist, so Roxin, eine Galerie von eindrucksvollen Gestalten, die hier in Erscheinung tritt; "sie könnte einem Roman von Karl May entstammen."25

   Der letzte Scherz: Mit dem Datum des 19. Juni signiert Karl May als 'Generalstaatsanwalt Dr. Schwarze' eine polizeiliche Legitimation, eine Fahndungsermächtigung "nach falschem Papier- und Silbergeld".26 Dem Inhaber, der sich selbst als 'Assessor Laube' ausgibt, soll dieser Freibrief die Wege bereiten: wie später - unter anderen Vorzeichen - dem Ich-Erzähler das Siegel des Großherrn oder dem 'Fürsten des Elends'27 die Vollmacht des Königs. Doch zum Gebrauch dieses 'Dokuments' hat May jetzt keine Gelegenheit mehr. Denn am 2. Juli 1869 nimmt der Spuk, mit der Festnahme des Regisseurs, sein vorläufiges Ende.


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   In den Zwischenzeiten wurde das 'unwürdige Glied des Lehrerstandes'28 von der Polizei gesucht. Sein Versteck: jene zwei 'Eisenhöhlen' bei Hohenstein, von denen die eine heute 'Karl-May-Höhle' genannt wird, während die andere inzwischen verschüttet ist. Es handelt sich um die Reste von alten Stollen aus dem 17. Jahrhundert. Um das Jahr 1772 dienten sie dem Räuberhauptmann Christian Harnisch und seiner Bande als Stützpunkt. Manch alte Räubergeschichte projizierte die Fama, noch viele Jahre nach Karl Mays Tode, auf unseren Helden.29



Anmerkungen


1Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg 1910. Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim, New York 21982, S. 167.
2Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 40.
3Helmut Schmiedt: Karl May. Studien zu Leben, Werk und Wirkung eines Erfolgsschriftstellers. Frankfurt/M. 21987, S. 39; vgl. Claus Roxin: Karl May, das Strafrecht und die Literatur. In: JbKMG 1978, S. 9-36 (S. 19).
4Kurt Langer: Der psychische Gesundheitszustand Karl Mays. Eine psychiatrisch-tiefenpsychologische Untersuchung. In: JbKMG 1978, S. 168-173 (S. 172), nimmt sogar eine "Schuldunfähigkeit" an.
5Claus Roxin: Mays Leben. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 62-123 (S. 88).
6Vgl. unten, S. 529f.
7Vgl. Klaus Hoffmann: Zeitgenössisches über "ein unwürdiges Glied des Lehrerstandes". Pressestimmen aus dem Königreich Sachsen 1864-1870. In: JbKMG 1971, S. 110-121 (S. 113-121) - Ders.: Karl May als "Räuberhauptmann" oder Die Verfolgung rund um die sächsische Erde. Karl Mays Straftaten und sein Aufenthalt 1868 bis 1870, 1. Teil. In: JbKMG 1972/73, S. 215-247 (S. 215ff.) - Wollschläger, wie Anm. 2, S. 36-41 - Christian Heermann: Der Mann, der Old Shatterhand war. Eine Karl-May-Biographie. Berlin 1988, S. 86-90.
8Wollschläger, wie Anm. 2, S. 36.
9Ebd.
10Aus dem Urteil des Bezirksgerichts Mittweida; zit. nach Hoffmann: "Räuberhauptmann", wie Anm. 7, S. 219.
11Vgl. Hoffmann: Ebd.
12Vgl. ebd., S. 220.
13Aus Prassers Bericht vom 12.4.1869; zit. nach Hoffmann: Ebd., S. 216.
14Vgl. Karl May: "Weihnacht!". Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXIV. Freiburg 1897: Carpio behauptet, ein "Empfehlungsschreiben" (ebd., S. 62) an seinen Verwandten in "Pittsburg" (ebd., S. 302) zu besitzen!
15Heermann, wie Anm. 7, S. 87, bezweifelt, daß Karl May dieses Angebot tatsächlich erhalten habe.
16Aus Mays Brief vom 20.4.1869 an seine Eltern; der Brief ist vollständig abgedruckt und kommentiert bei Hoffmann: "Räuberhauptmann", wie Anm. 7, S. 221 f.
17Zit. nach Gerhard Klußmeier - Hainer Plaul (Hrsg.): Karl May. Biographie in Dokumenten und Bildern. Hildesheim, New York 1978, S. 56 (links oben).
18Ebd., S. 56 (rechte Spalte); vgl. Hoffmann: Zeitgenössisches, wie Anm. 7, S. 114f.; ders.: "Räuberhauptmann", wie Anm. 7, S. 226f.
19Vgl. Walther Ilmer: Das Märchen als Wahrheit - die Wahrheit als Märchen. Aus Karl Mays 'Reise-Erinnerungen' an den erzgebirgischen Balkan. In: JbKMG 1984, S. 92-138 (S. 107).
20Hoffmann: "Räuberhauptmann", wie Anm. 7, S. 228.
21Aus dem Gendarmerieblatt vom 8.6.1869; zit. nach Hoffmann: Ebd.
22Dazu Walther Ilmer: Von Kurdistan nach Kerbela. Seelenprotokoll einer schlimmen Reise. In: JbKMG 1985, S. 263-320 (S. 302).
23Vgl. Hoffmann: "Räuberhauptmann", 2. Teil. In: JbKMG 1975, S. 243-275 (S. 259f.).
24Roxin: Mays Leben, wie Anm. 5, S. 87.
25Claus Roxin: Vorläufige Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays. In: JbKMG 1971, S. 74-109 (S. 80).


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26Aus dem Urteil des Bezirksgerichts Mittweida; zit. nach Hoffmann: "Räuberhauptmann", wie Anm. 7, S. 230f.
27Vgl. Karl May: Der verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends. Hildesheim, New York 1971 f. (Reprint der Dresdner Erstausgabe von 1883-85).
28So hieß es im Chemnitzer Tageblatt vom 13.6.1865. 29 Vgl. Heermann, wie Anm. 7, S. 88.
29Vgl. Heermann, wie Anm. 7, S. 88.



6.9

Verhaftung, dramatische Flucht und erneute Verfolgung


An symbolträchtiger Stätte, im Kegelschub der Gastschenke Engelhardt in Hohenstein, im 'Sklavenhaus' seiner Kindheit,1 ereilt Karl May nun das Schicksal.

   In Mays Roman Der Weg zum Glück betritt der unschuldige Lehrer Ma(y)x Walther den Kegelschub zu "Hohenwald". Ein finstrer Geselle befiehlt seinen Leuten, "die Polizeien" zu machen: "'Kommt Alle, kommt! Den halten wir fest!' Im nächsten Augenblicke sah Walther sich von den Leuten umringt."2

   Max Walther entledigt sich seiner Häscher mit Leichtigkeit. Den Ortspolizisten donnert er an und streckt ihn nieder mit einem Hieb. Den Befehlshaber, den Dorfschulzen Claus, kuriert er mit Ohrfeigen. Die Meute erstarrt. Und Respekt und Bewunderung winken dem Helden.

   Doch in Wirklichkeit war es so: 'Leutnant von Wolframsdorf', auch 'Assessor Laube' genannt, war durchs Schiebefenster in das verschlossene Kegelbaus zu Hohenstein eingedrungen. Seit mehreren Nächten hatte er das Gebäude als Schlafstätte benutzt. Ein Handtuch und ein Zigarrenpfeifchen waren die Beute des Einbrechers.3 Aber schon bald wurde der Täter entdeckt und mit Hilfe des Hohensteiner Polizeiwachtmeisters Laukner ergriffen.

   Mays Trauma wird wieder wahr: Die Polizei nimmt ihn fest, am 2. Juli 1869, früh morgens um 3 Uhr. Der aus dem Schlaf gerissene Träumer setzt sich zur Wehr. Wie schon früher, auf dem Wege nach Crimmitschau, greift er zu seiner Pistole. Aber "nach kurzem Kampfe" wird er, wie es in den Zeitungen hieß, überwältigt.4

   Ob das Terzerol mit Kugeln geladen war, ist ungewiß. Vor dem Untersuchungsrichter hat May es bestritten.5 Das Gericht wird - so Roxin -


der Frage nicht weiter nachgegangen sein, weil sie für die rechtliche Beurteilung des Falles ohne Bedeutung war. Denn ein Widerstand gegen die Staatsgewalt lag so oder so vor, und angesichts der Tatsache, daß May nicht geschossen hatte und eine Absicht zu schießen jedenfalls nicht nachweisbar war, konnte die Frage, ob die Pistole geladen war, als unerheblich auf sich beruhen.6


   Gar nicht so einfach war die Feststellung der Identität Karl Mays. Der Bösewicht ist auch diesmal "ziemlich gut verkleidet";7 dem betrügerischen Mübarek im Orientzyklus des Schriftstellers oder den vermeintlichen Grafen, den Verwandlungskünstlern und Lügenbaronen in seinen Kolportageromanen steht der Straftäter May in dieser Hinsicht kaum nach.

   Am 3. Juli wird er in Mittweida durch den Staatsanwalt Oskar Taube verhört. May leugnet alles. Seine Überführung ist schwierig; denn Schelmereien gab es um 1869 in Ernstthal und Umgebung genug. Auch gab es mehrere Kriminelle, die ebenfalls Carl Friedrich May (oder Mai) hießen.8

   Ob der verhaftete Karl May auch wirklich der Schuldige war, sollte - in jedem Einzelfalle - geklärt werden: durch Lokaltermine, durch Gegenüberstellung mit den Geschädigten. Es gab da merkwürdige Szenen. Der geprellte Carl Reimann zum Beispiel begrüßte


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am 5. Juli den Arretierten in Wiederau: "Da sind Sie ja, Herr Polizeileutnant!" Doch dieser meinte ganz ungeniert: "Ich kenne Sie nicht!"9

   Mays Selbstbiographie faßt diese Tage und Wochen zusammen: Wo immer etwas passiert war, "da transportierte man mich als 'hoffentlichen Täter' hin".10 Mit Handschellen wird der Gefangene herumgeschleppt und den Leuten gezeigt - wie ein Raubtier im Käfig. Das wird ihm endlich "zu viel. Ich zerbrach während eines Transportes meine Fesseln und verschwand."11

   Mit "einem Ruck"12 soll der schmächtige Karl May die Handschellen gesprengt haben! Am 26. Juli, auf dem Wege nach Bräunsdorf, reißt der Ergrimmte bei Kuhschnappel "alle seine Kräfte zu einem starken Stück zusammen: er zerbricht die 'eiserne Bretze'"13 und entspringt seinem Bewacher.14 Wie Old Shatterhand bei den Indianern, wie Karl Zimmermann in Mays Roman Deutsche Helden!15

   Über die Zeit von der Flucht bis zur endgültigen Wiederergreifung am 4. Januar 1870 ist wenig bekannt. Karl May wurde gejagt und in Steckbriefen beschrieben: Er trägt "falsche Bärte", hat einen - laut Zeitungsbericht (Ende Juli 1869) -


starren stechenden Blick, krumme Beine, ist geschlechtlich krank.16 Er spricht langsam, in gewählten Ausdrücken, verzieht beim Reden den Mund [...] Bei der Entweichung trug er ein schwarzseidnes, runddeckliges Sommerhütchen, einen braunen, ins Gilbliche schimmernden, jupenartigen Rock mit breiter schwarzer Borde besetzt, eine braune Weste und dergl. Hosen mit breiten schwarzen Streifen.17


   Um den Missetäter seiner gerechten Strafe zuzuführen, griffen die Bürger zu ungewöhnlichen Maßnahmen. Da Karl May in den heimatlichen Wäldern angeblich gesehen wurde, gab es in der Nacht vom 6. zum 7. August eine Großoffensive, ähnlich wie gegen den 'Hauptmann' in Mays Roman Der verlorene Sohn:18 An die fünfundzwanzig Gendarmen und die Ernstthaler Turnfeuerwehr rückten aus, "um in den Hohensteiner Wäldern dem berüchtigten [...] May auf die Spur zu kommen."19 Doch der Einsatz verlor sich ins Leere. Unser 'Schinderhannes und bayrischer Hiesel'20 ward nicht mehr gesehen.

   Wo war er hingegangen? Seine "längere Auslandsreise"21 beschränkte sich auf die sächsische Erde, auf verschiedene Herzogtümer und das benachbarte Böhmen. Immerhin - für damalige Reiseverhältnisse ein weites Gebiet! Über den Aufenthalt und die Erlebnisse Karl Mays zwischen Ende Juli 1869 und Anfang Januar 1870 ist unsre Kenntnis, wie gesagt, nur sehr unvollständig. Der Vagant lief herum, kreuz und quer. Nach Klaus Hoffmann durchstreifte er bis Mitte November eine Strecke von mindestens 300 km und war wohl die meiste Zeit ohne Geld.

   Mit Malwine Wadenbach, der Karl May wahrscheinlich von früher her bekannten Wirtschafterin auf einem Rittergut in der Nähe von Halle, traf er zuletzt Mitte November in Plößnitz zusammen: nach Malwines späterer Aussage als "Schriftsteller Heichel aus Dresden" und "natürlicher Sohn des Prinzen von Waldenburg"!22

   Im Dezember reiste May, teilweise vielleicht mit der Eisenbahn,23 ins Fürstentum Coburg-Gotha, hielt sich vermutlich in Coburg auf und überschritt dann per Eisenbahn die Grenze nach Böhmen. Die Route Eger - Falkenau - Karlsbad - Teplitz - Niederalgersdorf (fast 200 km) legte er in der zweiten Dezemberhälfte, zu Fuß und im erschöpften Zustand, zurück.

   Nach Hoffmann wäre es "zeitlich gut möglich",24 daß der 'Waldläufer' zu Weihnachten 1869 die Teilnahme und die Gastfreundschaft des Wirtes Franz Scholz in der Stadt Falkenau genossen hat. Mag dieses Detail nun zutreffen oder nicht, jedenfalls spiegelt das


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erste Kapitel der Reiseerzählung "Weihnacht!" in typisch Mayscher (höchst kunstvoller) Verschleierung die Erlebnisse der 'Winterreise' 1869.25

   Die frühere Hypothese, Karl May könnte 1869 den deutschen Sprachraum verlassen und Afrika oder die Vereinigten Staaten von Amerika bereist haben, ist mit Sicherheit widerlegt.26 Seine Fähigkeit, exotische Länder und fremde Bräuche so genau und so fesselnd zu schildern, wie er es später getan hat, bleibt - trotz der Benutzung von literarischen Quellen - um so wunderbarer. Denn das Morgenland und die 'Neue Welt' hat May erst im Alter gesehen.



Anmerkungen


1Vgl. oben, S. 54ff.
2Karl May: Der Weg zum Glück. Roman aus dem Leben Ludwig des Zweiten. Hildesheim, New York 1971 (Reprint der Dresdner Erstausgabe von 1886-88), S. 613 (vgl. auch die folgenden Seiten).
3Auch dieser Fall wurde Karl May als 'Diebstahl' berechnet.
4Im Leipziger Tageblatt und Anzeiger vom 8.7.1869 sowie im Zwickauer Wochenblatt vom 10.7.1869; zit. nach Klaus Hoffmann: Karl May als "Räuberhauptmann" oder Die Verfolgung rund um die sächsische Erde. Karl Mays Straftaten und sein Aufenthalt 1868 bis 1870, 1. Teil. In: JbKMG 1972/73, S. 215-247 (S. 232).
5Vgl. Hoffmann: Ebd.
6Claus Roxin in einem Brief vom 25.3.1989 an den Verfasser.
7Hoffmann: "Räuberhauptmann",wie Anm. 4, S. 232.
8Vgl. Hoffmann: "Räuberhauptmann", 2. Teil. In: JbKMG 1975, S. 243-275 (S. 245).
9Nach Aktenauszügen von Erich Wulffen; zit. nach Hoffmann: "Räuberhauptmann", wie Anm. 4,S.233.
10Karl May: Mein Leben und Streben, Freiburg 1910. Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim, New York 21982, S. 167.
11Ebd., S. 168.
12Nach Aktenauszügen von Erich Wulffen; zit. nach Hoffmann: "Räuberhauptmann", wie Anm. 4, S. 234.
13Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 41; ähnlich Klaus Hoffmann: Zeitgenössisches über "ein unwürdiges Glied des Lehrerstandes". Pressestimmen aus dem Königreich Sachsen 1864-1870. In: JbKMG 1971, S. 110-121 (S. 116).
14Angesichts der eher zierlichen Statur Karl Mays erscheint eine derartig gewaltsame Aktion erstaunlich und nicht sehr wahrscheinlich; vgl. Thomas Ostwald. Karl May - Leben und Werk. Braunschweig 41977, S. 33f. - Nach Walther Ilmer: Durch die sächsische Wüste zum erzgebirgischen Balkan. Karl Mays erster großer Streifzug durch seine Verfehlungen. In: JbKMG 1982, S. 97-130 (S. 126f., Anm. 4), könnte das 'Zerbrechen' der Handschellen auch eine Schutzbehauptung des von May düpierten Gendarmen gewesen sein.
15Vgl. Karl May: Deutsche Herzen - Deutsche Helden. Bamberg 1976 (Reprint der Dresdner Erstausgabe von 1885-87), S. 1340.
16Eine Geschlechtskrankheit Karl Mays ist sonst in keinem Dokument belegt. Dieser wahrscheinlich falsche Hinweis diente wohl zur "Abschreckung hilfsbereiter weiblicher Wesen" (Ilmer: Durch die sächsische Wüste, wie Anm. 14, S. 127, Anm. 4).
17Aus einem Steckbrief vom 31.7.1869; zit. nach Gerhard Klußmeier - Hainer Plaul (Hrsg.): Karl May. Biographie in Dokumenten und Bildern. Hildesheim, New York 1978, S. 59; vgl. Hoffmann: Zeitgenössisches, wie Anm. 13, S. 117.
18Vgl. Karl May: Der verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends. Hildesheim, New York 1972 (Reprint der Dresdner Erstausgabe von 1883-85), S. 1885ff.
19Aus dem Wochenblatt für Limbach und Umgebung vom 12.8.1869; zit. nach Hoffmann: Zeitgenössisches, wie Anm. 13, S. 117f.
20Vgl. oben, S. 106.
21May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 10, S. 158.
22Zit. nach Albert Hellwig: Die kriminalpsychologische Seite des Karl-May-Problems. In: KMJB 1920. Radebeul 1919, S. 187-250 (S. 200).


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23Vgl. Hoffmann: "Räuberhauptmann", wie Anm. 4, S. 244.
24Ebd., S. 245.
25Vgl. Karl May: "Weihnacht!". Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXIV. Freiburg 1897, S. 42ff.; dazu Hoffmann: "Räuberhauptmann", wie Anm. 4, S. 245. - Vgl. Walther Ilmer: Karl Mays Weihnachten in Karl Mays "Weihnacht!" II. Eine Spurenlese auf der Suche nach Fährten. In: JbKMG 1988, S. 209-247 (S. 212ff.); nach Ilmer (ebd., S. 213f.) dürfte das Falkenau in Mays "Weihnacht!" nicht die Stadt, sondern das Dorf Falkenau (in der Nähe von Kamnitz) sein; der Wirt 'Franzl' würde dann keinen realen Gastgeber aus der Biographie Karl Mays widerspiegeln, sondern müßte als weiteres Teil-Ich des Autors betrachtet werden.
26Vgl. Hainer Plaul: Karl May, wie Anm. 10, S. 383 (Anm. 137).



6.10

Wiederergreifung in Böhmen, Flucht nach 'Utopia' und strengste Bestrafung


May kämpfte mit seinem Gewissen. Er wollte zurück in die Heimat, um sich dort dem Gericht zu stellen; er "tat dies aber leider nicht stracks, wie es richtig gewesen wäre, sondern verfiel jenen inneren Gewalten, die sich wieder einstellten"1 und ihn hinderten, das Rechte zu tun. Anstatt sich freiwillig zu stellen, fiel er den Behörden in die Hände.

   Rein zufällig, weil er sich nicht ausweisen konnte, wurde der erschöpfte und völlig heruntergekommene Flüchtling am Morgen des 4. Januar 1870 in Niederalgersdorf bei Tetschen (damals Österreich-Ungarn, heute Tschechische Republik) ergriffen: als Landstreicher auf dem Dachboden einer Scheune - wie später Kara Ben Nemsi in Menlik: in einem Taubenschlag, der krachend zusammenbricht.2

   Man brachte den Unbekannten nach Bensen und dann nach Tetschen zur Feststellung der Personalien. Vor den k.u.k. Gendarmen gab sich der Vagabund sehr wendig und flugs - wie Stiller im Roman von Max Frisch - eine neue Identität:3 Albin Wadenbach sei sein Name. Zweiundzwanzig Jahre sei er alt (die letzten fünf Jahre werden unterschlagen!); er komme aus Orby auf der Insel Martinique, Westindien. In Wahrheit sei er ein vornehmer Herr, ein reicher Plantagenbesitzer. Sein Vater Heinrich Wadenbach sei leider verstorben, auch die Mutter sei lange schon tot. Ebenso wie sein Bruder Franz Friedrich, der sich in Coburg von ihm getrennt und aus Versehen die Ausweise mitgenommen habe, wolle er die nächsten Verwandten im alten Europa besuchen.

   Mays Kriminalität schlug, schon gut zu erkennen, ins Literarische, ins Märchenhafte, Utopische um: Martinique, ein Hauch von Paradies, von Traumland und Zauberwelt! Seine eigentliche Heimat - die Insel der Glückseligkeit! So wird es bleiben, auch in der Phantasie, im Wunschdenken des späteren Dichters: Der Schmiedejunge Ma(y)x Brandauer - in Scepter und Hammer - ist in Wahrheit ein Prinz, ein Kronprinz sogar, und bald schon wird er der König sein.4 Auch Kara Ben Nemsi ist kein gewöhnlicher Erdenmensch. Er kommt nicht aus Jammertal-Ernstthal; er kommt von Sitara, vom Lande der Sternenblumen, wie es im Spätwerk, in Ardistan und Dschinnistan, dann heißen wird.5

   Noch am 4. Januar gibt der 'Plantagenbesitzer' in Bensen zu Protokoll:


Mein Grundbesitz in Amerika repräsentirt einen Werth von 20000 Dollars. Ich habe mich mit der practischen Landwirthschaft befaßt, mir nebenbei auch Kenntnisse in der medicinischen Praxis angeeignet. Ich habe von Jugend auf nur Privatunterricht genossen, die practischen Kenntnisse in der Medicin habe ich mir bei einem Arzte namens Legrand(e) angeeignet. - Meine Mutter kannte ich nicht [...]6


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   Mit großartigen Briefen nach Martinique und an vorgebliche Zeugen in Deutschland versuchte 'Wadenbach' seine Aussagen zu untermauern. Erich Wulffen, der schon erwähnte Kriminologe, hat mitgeteilt:


Unter Benutzung seiner schon damaligen Kenntnisse von ausländischen Gegenden und Sitten schrieb er in der Haft [...] einen Brief, aus dessen Inhalt man tatsächlich hätte schließen können, daß der Häftling auf Martinique wie zu Hause sei. Also hier im Verbrechen die ersten Symptome des Charakters der späteren Schriftstellerei.7


   Fast wäre der Coup gelungen. 'Wadenbach' verstand es, zu überzeugen! Aber noch vor der Abfassung seiner stilistisch eleganten Briefe an das Leipziger Bankhaus 'Plaut & Comp.' und den Landwirt Emil Wettig (an welche Adressen man den 'Plantagenbesitzer' nur schreiben ließ, um ihn als Lügner enttarnen zu können)8 war man mißtrauisch geworden. Man hatte nach seinen 'Verwandten' geforscht und war auf die richtige Spur gekommen. Der Name 'Wadenbach' wurde May zum Verhängnis. Man fand die - vom 'Grundbesitzer' als seine Tante ausgegebene - Trägerin dieses Namens: die attraktive Fünfzigerin Malwine Wadenbach, die vom 'Schriftsteller Heichel', dem früheren Liebhaber (oder Freund oder Bekannten), nichts mehr wissen wollte.9 Sie sagte Ende Januar 1870 gegen ihn aus, und 'Albins' Geschichten waren erledigt.

   Zu klären blieb noch immer die Frage: Wer ist 'Albin Wadenbach' alias 'Schriftsteller Heichel aus Dresden' und 'natürlicher Sohn des Prinzen von Waldenburg' nun in Wirklichkeit? Ein nach Dresden übermittelter Steckbrief erwähnt "als besonderes Kennzeichen an der unteren Seite des Kinns eine von einem Geschwür herrührende Narbe":10 jenes Wundmal, das - in Mays Roman Waldröschen - Karl Sternau als den 'Herrn des Felsens' beglaubigt11 und das, als Kriegsverletzung Old Shatterhands, laut erstem Winnetou-Band vom Messer des Apachenhäuptlings herrühren soll".12

   Mit Hilfe des Steckbriefes und eines ebenfalls nach Sachsen gesandten Lichtbildes wurde der so lange gesuchte Karl May identifiziert. Am 15. März wurde er seinem Heimatland ausgeliefert.

   Bis zum 3. Mai 1870 saß er im Gerichtsgefängnis Mittweida. Sein Leugnen gab er jetzt auf; er gestand alles ein. Und vierzig Jahre später heißt es in der Selbstbiographie:


Nicht mich bedaure ich, sondern meine armen, braven Eltern und Geschwister, welch erstere mir noch im Grabe leid tun, daß ihr Sohn, auf den sie so große [...] Hoffnungen setzten, durch die unendliche Grausamkeit der Tatsachen und Verhältnisse gezwungen ist, derartige Geständnisse zu machen.13


   Am 13. April 1870 wurde May, unter Berücksichtigung seiner Rückfälligkeit, aufs strengste verurteilt: zu vier Jahren Zuchthaus wegen einfachen und ausgezeichneten Diebstahls, wegen Betrugs unter erschwerenden Umständen, wegen Fälschung und Widerstand gegen erlaubte Selbsthilfe.14

   Der Pflichtanwalt Karl Haase hielt den Untersuchungsgefangenen, wohl nicht GANZ zu Unrecht, für einen "komischen Menschen",15 für einen übermütigen Clown und exzentrischen Schauspieler. Haase gab sich, so sah es May in der Selbstbiographie, keine Mühe für seinen Mandanten. "Er hat mich nicht verteidigt, sondern belastet, und zwar in der schlimmsten Weise."16 Im Berufungsschreiben vom 17.5.1870 räumte der Anwalt zwar ein, daß nicht "Schlechtigkeit und Böswilligkeit den Angeklagten zu den Verbrechen getrieben zu haben scheinen, als vielmehr grenzenloser Leichtsinn und die angeborene Kunst, den Leuten etwas vorzumachen und daraus Gewinn zu ziehen."17 Doch im selben Text bezeichnet er den Häftling als "gemeinschädliches Individuum";18 insofern wird der


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'Verteidiger' den Angeklagten tatsächlich belastet haben; eine Verminderung des Strafmaßes hat er jedenfalls nicht erreicht.

   Nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus wird der Dichter beginnen, sich 'frei' zu schreiben von seiner Vergangenheit. Seine Straftaten und Schwindeleien, speziell auch die Wadenbach-Legende, gehören zum 'Innen-Material' seiner Erzählwerke. Er korrigiert seine Lebensgeschichte und versucht, auf literarische Weise, sich der 'dunklen' Seiten des eigenen Ichs zu entledigen. 'Albin Wadenbach' zum Beispiel taucht, mit chiffriertem Namen, in den Bänden I und IV der 'Gesammelten Reiseromane' wieder auf: als Martin(ique) Albani.19 Der flatterhafte, aus Österreich (!) stammende Bänkelsänger und Deklamator (auch May ist, 1863/64, ein solcher gewesen) begegnet Kara Ben Nemsi, dem begnadeten Wunsch-Ich des Autors. Später, nach seiner Rückkehr aus dem 'Balkan', muß der Sänger Albani - die 'realistische' Ich-Projektion des Dichters - ertrinken! "Damit war wieder einmal ein Teil-Ich, ein Stück böser May versunken."20



Anmerkungen


1Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg 1910. Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim, New York 21982, S. 168.
2Vgl. Karl May: In den Schluchten des Balkan. Gesammelte Reiseromane, Bd. IV. Freiburg 1892, S. 371ff.; dazu Walther Ilmer: Das Märchen als Wahrheit - die Wahrheit als Märchen. Aus Karl Mays 'Reise-Erinnerungen' an den erzgebirgischen Balkan. In: JbKMG 1984, S. 92-138 (S. 101).
3Die erste Darstellung dieser Ereignisse findet sich bei Albert Hellwig: Die kriminalpsychologische Seite des Karl-May-Problems. In: KMJB 1920. Radebeul 1919, S. 187-250; weitere Forschungsergebnisse bringt Klaus Hoffmann: Karl May als "Räuberhauptmann" oder Die Verfolgung rund um die sächsische Erde. Karl Mays Straftaten und sein Aufenthalt 1868 bis 1870, 1. Teil. In: JbKMG 1972/73, S. 215-247 (S. 236ff). - Zur Deutung der Episode sehr aufschlußreich: Heinz Stolte: Mein Name sei Wadenbach. Zum Identitätsproblem bei Karl May. In: JbKMG 1978, S. 37-59 (S. 37-43).
4Vgl. Karl May: Scepter und Hammer (1879/80). Karl Mays Werke II. 1. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1987.
5Vgl. Karl May: Ardistan und Dschinnistan I/II. Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXXI/XXXII. Freiburg 1909, Bd. 1, S. lff; vgl. unten, S. 503ff.
6Zit. nach Hoffmann: "Räuberhauptmann", wie Anm. 3, S. 236.
7Erich Wulffen: Psychologie des Verbrechers. Ein Handbuch für Juristen, Ärzte, Pädagogen und Gebildete aller Stände, Bd. II. Groß-Lichterfelde-Ost 1908, S. 314f.; zit. nach Hainer Plaul: Karl May, wie Anm. 1, S. 375 (Anm. 119).
8Zum Wortlaut dieser Briefe vom 9.2.1870 vgl. Klaus Hoffmann: Zeitgenössisches über ein "unwürdiges Glied des Lehrerstandes". Pressestimmen aus dem Königreich Sachsen 1864-1870. In: JbKMG 1971, S. 110-121 (S. 119f.)
9Malwine Wadenbach heiratete am 24.2.1870 den elf Jahre jüngeren Sirupfabrikanten Johann Steineck; vgl. Hoffmann: "Räuberhauptmann", wie Anm. 3, S. 240f.
10Zit. nach Christian Heermann: Der Mann, der Old Shatterhand war. Eine Karl-May-Biographie. Berlin 1988, S. 95.
11Vgl. Karl May: Waldröschen oder Die Rächerjagd rund um die Erde, Bd. II. Leipzig 1988 (Reprint des Dresdner Erstsatzes von 1882-84), S. 737.
12Heermann, wie Anm. 10, S. 95.
13May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 1, S. 169.
14Vgl. Hoffmann: "Räuberhauptmann", wie Anm. 3, S. 241.
15Haases Stellungnahme ist vollständig wiedergegeben bei Hoffmann: Ebd., S. 242; vgl. Heinz Stolte: Narren, Clowns und Harlekine. Komik und Humor bei Karl May. In: JbKMG 1982, S. 40-59 (S. 45f.).
16May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 1, S. 168.
17Aus Haases Stellungnahme, wie Anm. 15.
18Vgl. dazu Heermann, wie Anm. 10, S. 95.


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19Dazu Ilmer, wie Anm. 2, S. 97ff.; zur vielfachen Spiegelung des Wadenbach-Schwindels in Mays Werk vgl. auch die Beiträge Ilmers in den JbKMG 1979, 1982 u. 1985.
20Ilmer, wie Anm. 2, S. 99.



6.11

Ange et Diable - Zeitweiliger Atheismus?


Das Phänomen Karl May bliebe unverstanden, wenn der religiöse Hintergrund, die geistliche Dimension, nicht bedacht würde.

   Selbst für seine Vergehen fährt May noch religiöse (freilich ver-rückte und neurotisch aufgeladene) Motive ins Feld.1 Der kleine Karle, der Seminarist, der erwachsene Karl May war religiös geprägt. Und seine Schriften bezeugen, nahezu ausnahmslos, die Transzendenz der göttlichen Liebe.

   Doch der Häftling Karl May schien den Glauben, die vertrauende Gottesbeziehung, zeitweilig verloren zu haben. Zwar heißt es in der Autobiographie:


Ich kann mich nicht besinnen, daß ich je mit dem Zweifel oder gar mit dem Unglauben zu ringen gehabt hätte. Die Ueberzeugung, daß es einen Gott gebe, der auch über mich wachen und mich nie verlassen werde, ist, sozusagen, zu jeder Zeit eine feste, unveräußerliche Ingredienz meiner Persönlichkeit gewesen.2


   Das "sozusagen" deutet aber schon eine Einschränkung an.3 Und gleich in der nächsten Zeile - scheinbar nur beiläufig - korrigiert der Autor sich selbst: "Freilich, so ganz ohne alle innere Störung ist es auch bei mir nicht abgegangen."4

   Welche 'innere Störung' meint der Schriftsteller? Nach Mein Leben und Streben die besondere Art des Religionsunterrichts im Lehrerseminar zu Waldenburg.5 Aber auch die Gemütsverfassung Karl Mays vor und während der Haftzeit könnte, dem Verfasser der Selbstbiographie vielleicht nicht bewußt, mit gemeint sein.

   Noch vor dem Antritt seiner Zuchthausstrafe in Waldheim, im Untersuchungsgefängnis von Mittweida oder noch früher, verfaßte May ein Fragment mit dem Titel Ange et Diable. Dieser Text betrachtet 'Gott' als Erfindung des menschlichen Geistes und läßt beim Autor einen Atheismus im Sinne Ludwig Feuerbachs vermuten:6 "Wie nun das Kind eines Vaters bedarf, [...] so bedurfte auch der Mensch auf der Stufe seiner Kindheit eines allmächtigen etc. Vaters, den er Gott nannte."7 Gott sei, so wird im Text weiter ausgeführt, kein wirkliches Wesen, keine reale, von der menschlichen Psyche zu unterscheidende Instanz. Es werde die Zeit kommen, da der Mensch "seinen Gott in sich selbst fühlt und findet"; Religion sei dann überflüssig, "Kirchen, Pagoden, Synagogen etc. werden verschwinden"!8

   Der junge Rebell verstieg sich zum "Gotteskomplex",9 zum Glauben an die Allmacht, an die Göttlichkeit des Menschen selbst:


Ich kenne einen Gott blos im Menschen, der sich zur Allmacht und Allwissenheit erheben und dessen Leben ein durch Generationen fortgesetzt ewiges sein soll. Wir sind nicht Ebenbilder Gottes, sondern Gott ist das Ideal des Menschen wie er einst sein wird und sein muß.10


   Ein typischer May-Text scheint diese Stelle insofern zu sein, als der - bei unserem Autor ja durchgängige, in allen seinen Büchern zu findende - Aufstiegsgedanke in radikalster Weise zur Geltung kommt: Der Mensch soll werden 'wie Gott'! Dennoch begegnet uns in Ange et Diable ein völlig anderer Karl May als später in den Reiseerzählungen. Von der Blasphemie, von der sündigen Hybris, vom usurpatorischen 'Sein-wollen-wie-Gott' (Gen 3, 5) ist die 'Gottebenbildlichkeit' des Menschen, die Geschenk-Charakter hat


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(Gen 1, 26), zu unterscheiden: Im Gegensatz zur früheren, in deutlicher Differenz auch zur künftigen Auffassung Karl Mays ist es in Ange et Diable nicht Gottes Gnade, sondern die selbsterlösende Kraft des 'Übermenschen', die den Aufstieg ins höhere Sein bewirkt.

   Der biographische Stellenwert dieses frühen May-Textes ist allerdings unsicher. Er widerspricht dem Weihnachtsgedicht (1867?)11 und dem ebenfalls in der Zwickauer Haftzeit entstandenen Repertorium C. May, das in Gott - dem transzendenten Gott des Glaubens - die allmächtige Liebe erkennt.12 Die Auslegung von Ange et Diable ist schwierig, weil Mays einander widersprechende Haftfragmente nicht genau zu datieren sind und "eine ganze Reihe aufklärungsbedürftiger Merkwürdigkeiten"13 enthalten. Solange nicht zweifelsfrei feststeht, in welchem Zusammenhang, unter welchen konkreten Umständen und in welcher Reihenfolge diese Skizzen geschrieben wurden, bleibt die Interpretation fraglich und die biographische Auswertung problematisch.

   Ange et Diable ist kein sicherer Beleg für die 'Gottlosigkeit' des Untersuchungsgefangenen in Mittweida. Dieses Textfragment läßt aber, immerhin, die Annahme zu: Der Glaubensgeschichte Karl Mays wurde die Anfechtung des Zweifels, seiner ererbten Katechismusreligion wurde die innere Erschütterung nicht erspart.

   Mays spätere Erzählungen, z.B. wichtige Passagen in "Weihnacht!"14 oder das Glaubensgespräch in Old Surehand I, bestätigen diese Vermutung. Der Westmann Old Surehand hat Böses erlebt; seine Hoffnung, sein Vertrauen sind erloschen. Einen Sinn des Lebens kann er nicht mehr erblicken. Er beneidet Old Shatterhand: "Ihr habt als Kind gehört, daß es einen Gott gebe dieser Glaube ist nie angetastet worden Old Shatterhand widerspricht:


Ihr irrt. Es giebt keinen Sieg ohne vorhergehenden Kampf Es giebt Millionen Menschen, welche durch das Leben gehen, ohne nach Klarheit zu ringen; ob Gott oder nicht, das ist ihnen gleich [...] Mir aber ist der höchste, ja der einzige Zweck meines Daseins der gewesen, zur Erkenntnis zu gelangen [...] Ich bekam ungläubige Lehrer, die ihre Verneinung in einen anziehenden Nimbus zu hüllen wußten15 [...] Der Kinderglaube verschwand; der Zweifel begann [...] der Unglaube wuchs von Tag zu Tag [...] Aber Gott war barmherzig gegen den Thoren und führte ihn auch auf dem Wege des Studiums zu der Erkenntnis, daß jener fromme Kinderglaube der allein richtige sei."16


   Aus beiden Gesprächspartnern, Surehand und Shatterhand, spricht der Schriftsteller selbst. Der Christ, das 'Lichtvolle' in Karl May, sucht den Atheisten, das 'Dunkle' in ihm, zu überwinden. Der "fromme Kinderglaube" Old Shatterhands ist ein Teil seines Wesens, der Zweifel Old Surehands aber nicht weniger!

   Ange et Diable, diese gewiß noch unreife Skizze, spricht nicht gegen, sondern für den Glauben des werdenden Dichters. Denn gewachsene, verinnerlichte Religiosität ist immer erst dort gegeben, wo sie durch kritische Fragen und existentielle Prüfungen - den 'Feuerbach' - hindurchgegangen ist.17

   Die religionskritischen Thesen Feuerbachs oder Nietzsches oder Freuds können für Christen eine Hilfe sein, eine heilsame Provokation. Sie können eine Chance sein, den wirklichen Glauben zu lernen. Sie können den Gottesgedanken von Mißverständnissen und allzu naiven Vorstellungen befreien. Sie können helfen, den Glauben zu vertiefen und neu zu verantworten. Es ist ja zu fragen, ob der 'Atheismus' immer Gott selbst meint; oder ob er, wenigstens teilweise, nur Karikaturen, nur bestimmte religiöse Sichtweisen im Visier hat: Gottes-Bilder, die tatsächlich fragwürdig und überprüfungsbedürftig sind.18

   Es gibt sehr verschiedene Arten des Unglaubens: den echten und den scheinbaren, den theoretischen und den praktizierten, den aggressiven und den bekümmerten Atheismus. Aber man kann das oft gar nicht so trennen; nicht selten ist das alles miteinander ver-


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schränkt. Auch bei Karl May wird es so gewesen sein. Der ausdrückliche Atheismus, den Ange et Diable verrät, war eine Episode in seinem Leben. Aber die Überwindung des Hochmuts, die Suche nach Gott, blieb seine lebenslange Aufgabe.

   Vielleicht wohnt in jeder menschlichen Seele ein verborgener 'Atheist'; vielleicht spricht in jedem Herzen bisweilen der Tor: "Es gibt keinen Gott" (Ps 53, 2)! Denn Gottes Dasein, seine Allmacht und Liebe, sind wahrhaftig nicht selbstverständlich: Auch der Glaubende muß 'anglauben' gegen so manche Realität seines Lebens, gegen das Umsonst vieler Pläne und Hoffnungen, gegen die Gefährdung und ständige Bedrohtheit des Glücks.

   Auch Mays - scheinbar so simple - Frömmigkeit wurde der Prüfung unterworfen: in den letzten Hiobsjahren noch grausamer, noch grundsätzlicher und radikaler als in der Jugend und in den frühen Mannesjahren.19 Die Annahme ist sicher berechtigt: Auf seinem Pilgerwege zu Gott hatte May um seinen Glauben zu kämpfen - nicht nur im Gefängnis, nicht nur im Zuchthaus, sondern immer und stets.

   Wie vor allem sein Alterswerk zeigt, ist Karl May beim Kinderglauben nicht stehengeblieben. Die hybride Denkweise von Ange et Diable vertritt in Mays Spätwerk - im Silbernen Löwen III/IV - Ahriman Mirza, der 'Fürst der Schatten': eine Verkörperung des (von May als dämonisch und absolut böse gedeuteten) 'Übermenschen' Friedrich Nietzsches.20 Ahriman versinkt in den Wahnsinn! Der Dichter hat sich damit, endgültig, von Ange et Diable distanziert. Und zugleich hat er den 'frommen Kinderglauben Old Shatterhands' modifiziert: Er hat sich durchgerungen zu einer mündigen, wichtige Denkansätze der modernen Theologie vorwegnehmenden Religiosität.21

   Als Gratwanderung zwischen Gnade und Schuld, zwischen dem Glauben an Gott und dem Glauben an Selbsterlösung könnte der Lebensweg des Schriftstellers verstanden werden. Freilich - ob in den 'Sturm- und Drangjahren' der Straftäterzeit Karl Mays von einem wirklichen und schuldhaften Verlust seiner Gottesbeziehung tatsächlich die Rede sein kann, diese Frage entzieht sich der wissenschaftlichen Forschung. Daß der Dichter eine ernsthafte Schuld bei sich selber vermutete, ist jedoch anzunehmen.

   Mays Erzählwerk legt diese Schlußfolgerung nahe. Von den erzgebirgischen Dorfgeschichten bis zum allegorischen Spätwerk enthalten seine Bücher sehr zahlreiche Bekehrungsgeschichten.22 Der reiche Dukatenbauer, der verbrecherische Sendador, der Sühne leistende Indianerfreund Klekih-petra, der Sucher Old Surehand, der sterbende Westmann Old Wabble, der gottlose Pelzjäger Hiller, der vergrämte und verzweifelnde Major Dozorca, der stolze Mir von Ardistan, sie alle haben eine dunkle, gottferne Vergangenheit zu beklagen. Sie waren sich selbst ihr eigener Götze. Sie haben die Liebe und mit der Liebe den Glauben verloren. Bis sie überwältigt wurden - von jener Liebe, die sie so lange geleugnet hatten.

   Im Silberlöwen I steht geschrieben:


"Ja, ein wirkliches Leben lebt nur der, welcher in Gott und seiner Liebe lebt. Dir war die Liebe gestorben, und an ihrer Stelle wucherten in dir der Groll, der Haß, die Rache empor. Du warfst die ganze Schuld an deinem verfehlten Dasein auf Gott, ohne zu bedenken, daß niemand schuld war als du selbst."23


   Und im Jenseits-Band ist zu lesen: "Das einzige Licht der Seele ist die Liebe [...] Mein Dasein aber hatte nur mir gegolten; ich war liebeleer und hatte also nicht gelebt."24 Solche und ähnliche Stellen gibt es beim späteren - das 'mütterliche Antlitz Gottes' suchenden25 - May in Fülle!


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   "Ich war liebeleer" ist doppelsinnig. Es kann heißen: Ich bin nicht geliebt worden. Und es kann auch bedeuten: Ich habe selbst nicht geliebt. Gemeint ist hier beides. Die autobiographische Signifikanz dieses Satzes ist nicht zu bezweifeln.



Anmerkungen


1Vgl. oben, S. 83ff.
2Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg 1910. Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim, New York 21982, S. 95.
3Vgl. Franz Cornaro: Bemerkungen zu Karl Mays Manuskript 'Ange et diable'. In: JbKMG 1978, S. 256-263 (S. 261).
4May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 2, S. 95.
5Ebd. - Vgl. oben, S. 64.
6So Claus Roxin: Das zweite Jahrbuch. In: JbKMG 1971, S. 7-10 (S. 8). - Auch Cornaro, wie Anm. 3, S. 259, nimmt einen (freilich nur indirekten) Einfluß Ludwig Feuerbachs an. - Vgl. Hermann Wiedenroth: (Werkartikel zu) Ange et Diable. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 607ff.
7Karl May: Ange et Diable. In: JbKMG 1971, S. 128-132 (S. 129).
8Ebd., S. 129f.
9Vgl. (ohne Bezug auf Karl May, aber in unserem Zusammenhang sehr erhellend) Horst Eberhard Richter: Der Gotteskomplex. Die Geburt und die Krise des Glaubens an die Allmacht des Menschen. Reinbek 1979.
10May: Ange et Diable, wie Anm. 7, S. 131.
11Vgl. oben, S. 100ff.
12Vgl. Karl May: Repertorium C. May. Titelplan Nr. 80 (Mensch und Teufel). In: JbKMG 1971, S. 132-143 (S. 137f.); dazu Cornaro, wie Anm. 3, S. 261f.
13Cornaro: Ebd., S. 261.
14Vgl. Karl May: "Weihnacht!". Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXIV. Freiburg 1897, z.B. S. 161ff.
15Vielleicht dachte May hier - im Surehand-Text übertreibend - an Rektor Fickelscherer (vgl. oben, S. 58f.), vielleicht auch an Buch-Autoren, die er gelesen oder von denen er gehört hatte.
16Karl May: Old Surehand I. Gesammelte Reiseromane, Bd. XIV. Freiburg 1894, S. 406f.
17Vgl. Walter Schönthal: Christliche Religion und Weltreligionen in Karl Mays Leben und Werk. SKMG Nr. 5 (1976), S. 4ff.
18Vgl. Hermann Wohlgschaft: Heute an Gott glauben. Wege zur Gotteserfahrung. Aschaffenburg 1983, S. 17f.
19Vgl. Heinz Stolte: Hiob May. In: JbKMG 1985, S. 63-84.
20Vgl. unten, S. 647f.
21Vgl. unten, S. 597ff.
22Vgl. Wolfgang Hammer: Bekehrung bei Karl May. S-KMG Nr. 92 (1992).
23Karl May: Im Reiche des silbernen Löwen I. Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXVI. Freiburg 1898, S. 609.
24Karl May: Am Jenseits. Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXV. Freiburg 1899, S. 512; zit. - ebenso wie das vorausgehende Zitat aus dem Silberlöwen I - auch bei Claus Roxin: "Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand". Zum Bild Karl Mays in der Epoche seiner späten Reiseerzählungen. In: JbKMG 1974, S. 15-73 (S. 57).
25Vgl. unten, S. 284f. u. 660ff.



6.12

Die Zuchthausjahre in Waldheim


Daß zwischen Mays 'Atheismus', seiner Selbstvergötterung, seiner seelischen Not und seinen Rechtsbrüchen eine innere Verbindung bestand, ist gewiß nicht von der Hand zu


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weisen. Nach dem psychischen Zustand des gescheiterten Lehrers wurde bei der Urteilsfindung allerdings kaum gefragt. Verteidiger Haase "war unfähig, mich oder überhaupt ein nicht ganz alltägliches Seelenleben zu begreifen." (S. 169)1 Was zählte, war der meßbare Tatbestand, der Widerstand gegen die Staatsgewalt und die Rückfälligkeit Karl Mays. Vier Jahre Zuchthaus waren die Quittung für Mays zweite Deliktserie. Das Arbeitshaus in Zwickau, die Untersuchungshaft in Mittweida und das Zuchthaus in Waldheim zusammengerechnet: acht Jahre Freiheitsentzug für einen Schaden, der - insgesamt - tausend Mark nicht erreichte!2


6.12.1

Der äußere Haftverlauf


Am 3. Mai wurde der Gefangene ins (nur wenige Kilometer von Mittweida entfernte) Zuchthaus zu Waldheim gebracht. Es war die älteste und größte Anstalt dieser Art im Königreich Sachsen. Seit etwa 1833 diente Waldheim als reine Strafanstalt. Bis in die sechziger Jahre waren dort auch viele Teilnehmer am Dresdner Aufstand (1849) einer unmenschlichen Vergeltungsjustiz unterworfen gewesen.

   Als May seine Strafe verbüßte, galten die 'Verhaltungsvorschriften für die Gefangenen' aus dem Jahre 1867:


Allen Anordnungen [...] hat der Züchtling sofort und ohne Weigerung den pünktlichsten Gehorsam zu leisten, in Handlungen, Worten, Mienen und Gebehrden stets ein ruhiges und anständiges Benehmen zu beobachten [...] (§ 1) Spricht ein Vorgesetzter mit dem Züchtling, so muß Letzterer ganz gerade mit aneinander gezogenen Absätzen stehen und sich aller Bewegungen und Gesticulationen enthalten [...] (§ 8) Auf den Facturen, Schlafsälen, Speisesälen etc. und bei den Arbeiten im Freien haben die Züchtlinge das strengste Stillschweigen zu beobachten [...] (§ 15) Gegenwärtige Vorschriften hat nicht blos jeder Züchtling für seine Person genau zu beobachten, sondern es sind auch die von Anderen begangenen Verletzungen dieser Vorschriften anzuzeigen und ist das Verschweigen solcher Verletzungen selbst strafbar. (§ 30)3


   Zur Haftzeit Mays war Hugo Schilling (1818-1886) der Anstaltsdirektor. Es galt der Grundsatz des 'progressiven Strafvollzugs': Der Häftling wurde zunächst besonders streng behandelt, um ihm - wie Hainer Plaul recherchierte -


gleich zu Beginn die Strafe so fühlbar wie möglich zu machen und ihm sein Verbrechen in ganzer Schwere zum Bewußtsein zu bringen [...] Mit fortschreitender Strafe, insbesondere nach ihrem Ende zu, war man dagegen bestrebt, dem Sträfling je nach seiner Individualität gewisse Erleichterungen zu gewähren und suchte in steigendem Maße im erzieherischen Sinne auf ihn einzuwirken.4


   Mays Strafe "war schwer und lang" (S. 169). Daß sie dennoch - laut Selbstbiographie - nicht wehe" (S. 170) tat, ist kaum zu glauben. Die Haftbedingungen waren drakonisch: "Waldheim bedeutete buchstäblich die Hölle."5 Abschreckung und Rache, Restriktion und Verletzung der Persönlichkeit standen, bis zum Ende der Strafverbüßung, im Vordergrund. "Der Besserungsgedanke spielte [...] eine sehr untergeordnete Rolle."6

   Zu den erzieherischen Maßnahmen gehörte in erster Linie die religiöse Betreuung. In dieser Hinsicht herrschten ganz ähnliche Verhältnisse wie im Zwickauer Arbeitshaus. Die Gottesdienste und Betstunden an den Sonn- und Feiertagen sowie die Andachtsübungen an den Werktagen mußten besucht werden. Persönliche Gespräche mit den überlasteten Seelsorgern waren wohl selten und in der Regel nur kurz.

   Karl May war der Züchtling 'Nr. 402'. Anders als in Schloß Osterstein wurde auf seinen früheren Lehrerstand "keine Rücksicht genommen" (S. 170). Er wurde als Zigarrenmacher beschäftigt und hatte, wie jeder Gefangene, mindestens 13 Stunden täglich zu ar-


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beiten. Als Rückfälliger wurde er der dritten, also der untersten Disziplinarklasse zugeordnet.


"Die Verschiedenheit in der Behandlung der einzelnen Klassen erstreckte sich namentlich auf Bemessung und Verwendung des Arbeitserwerbs, auf beschränktere oder umfangreichere Gewährung bezw. Versagung von materiellen und anderweitigen Vergünstigungen, und auf härtere bezw. gelindere Anwendung der Disziplinarstrafen." Außerdem unterschieden sich die Angehörigen der verschiedenen Klassen auch äußerlich in ihrer Bekleidung.7


   Mögliche Disziplinarstrafen waren u.a. die Kostschmälerung, der einfache oder (barbarisch!) verschärfte Arrest, der Kostentzug bis auf Wasser und Brot, das Tragen von Klotz und Kette, die Prügelstrafe bis zu dreißig Stock- oder Rutenhieben auf den entblößten Rücken oder das nackte Gesäß.8

   Auch May wurde "einmal bestraft";9 allerdings ist nicht genau bekannt, wann, wofür und in welcher Weise er bestraft worden ist. Gewichtige Anhaltspunkte sprechen dafür, daß die Strafe - vermutlich Kostentzug oder Kostschmälerung10 - "in der ersten Zeit seiner Detention erfolgte".11 Im Zusammenhang mit seinem (wahrscheinlich geringen) 'Delikt' wurde May in die Isolierzelle gesteckt: nicht freiwillig und nicht für die Gesamtzeit seiner Haft, wie es in der Selbstbiographie heißt (S. 170), sondern für höchstens ein Jahr und zwar "wegen Verdacht des Entweichens und Neigung zu grobem Unfug, Widersetzlichkeit und Gewaltthaten".12

   Mit der Isolierung Karl Mays im Arbeitshaus "war die jetzige Einzelhaft in keiner Weise zu vergleichen. Sie [...] bedeutete strengste Kontrolle, absolutes Schweigegebot, fast völlige Abgeschiedenheit, monotone Arbeit und weitgehende geistige Abschirmung."13

   Wie Hainer Plaul vermutet, stand May am Rande einer Haftpsychose.14 Vielleicht war es dem jungen Adolf Knecht (1846-19 15), einem der praktischen Psychiatrie zugewandten Arzte, zu verdanken, daß die Krankheit nicht voll zum Ausbruch kam. Der in Mays Selbstbiographie nicht erwähnte Dr. Knecht, der den Kranken gegenüber "den humansten Sinn"15 bewies, kam freilich erst im August 1872 als zweiter Anstaltsarzt nach Waldheim. Sehr wahrscheinlich hatte May schon wesentlich früher (im Jahre 1871) jene Begegnung, der er - in Mein Leben und Streben - die entscheidende Bedeutung zuerkennt: die Begegnung mit dem katholischen Lehrer und Anstaltskatecheten Johannes Kochta (1824-1886).

   Die tatsächliche Rolle des Katecheten im Leben des Schriftstellers wurde kontrovers diskutiert. Wir werden darauf zurückkommen. Fürs erste sei nur vermerkt: Kochta verschaffte May beachtliche Hafterleichterungen,16 nicht zuletzt - wohl Ende 1871 oder Anfang 1872 - die Versetzung in die zweite Disziplinarklasse mit den entsprechenden Vergünstigungen (z.B. Erwerb von Tabak und anderen kleinen Genußmitteln). Schon vorher war May in die Kollektivhaft zurückgekehrt; ob er nachts in einer Einzelzelle verblieb, ist unbekannt.

   Zu den Aufgaben des Katecheten gehörte, neben Seelsorge und Glaubensunterweisung, das Orgelspiel. Weil Johannes Kochta entlastet werden mußte und es außer May wahrscheinlich keinen geeigneten Kandidaten gab, wurde May, obwohl er Lutheraner war, der Dienst des Organisten beim katholischen Gottesdienst übertragen.17 Diese Tätigkeit gab ihm, so dürfen wir annehmen, sein Selbstbewußtsein zurück. Sie vermittelte ihm die Kraft, sich zu fügen, die Schreckensjahre durchzustehen und sich keine weitere Disziplinarstrafe zuzuziehen.


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   Möglicherweise machte Johannes Kochta ihm Mut, im Frühjahr 1872 ein Gnadengesuch einzureichen. Der Erfolg blieb freilich aus. Am 30. April 1872 wurde sein Gesuch abgelehnt.18

   Im Jahre 1873 könnte der Häftling ins "Bläserkorps" des Aufsehers Carl August Leistner (dem er später in Dresden erneut begegnete)19 aufgenommen worden sein. Gesicherte Quellen gibt es dafür nicht; aber Mays Darstellung in der Autobiographie (S. 172) muß, was diese Einzelheit betrifft, nicht bezweifelt werden.

   Zumindest teilweise irrig ist freilich eine andere Behauptung Mays:


Es stand mir jedes Buch zur Verfügung, das ich für meine Studien brauchte. Ich stellte meine Arbeitspläne fertig und begann dann mit der Ausführung derselben. Ich schrieb Manuskripte. Sobald eines fertig war, schickte ich es heim. Die Eltern vermittelten dann zwischen mir und den Verlegern. (S. 175)


   Die Aufenthalte in Waldheim und Zwickau wird May hier verwechselt haben. Eine literarische Tätigkeit war im Zuchthaus "völlig ausgeschlossen".20 Und Zeit zur Lektüre gab es nur an den Sonn- und Feiertagen. Über die Bestände der Gefangenenbibliothek zu Waldheim ist leider nichts Näheres bekannt.21 Immerhin - geographische und ethnologische Werke, vielleicht auch exotische Reiseromane, könnte Karl May im Zuchthaus gelesen haben.

   Zu Beginn des Jahres 1874 wurde May, wohl auf die Fürsprache Kochtas hin, in der Gefangenenbibliothek beschäftigt; bei der Ausleihe von Büchern durfte er helfen. Doch diese Tätigkeit währte nur wenige Wochen. Am 1. März 1874 brachte der Insasse Hering "ein neues Buch beschmutzt"22 zurück. May stellte sich schützend vor seinen Mitgefangenen: Das Buch sei, so gab er an, schon vorher beschmutzt gewesen. Diese Aussage, die im Widerspruch zur Darstellung Herings stand, hatte die Entfernung Mays aus dem Bibliotheksdienst zur Folge.

   Der erste evangelische Anstaltsgeistliche Christian Gottlob Fischer (1815-1893), der die Oberaufsicht über die Gefangenenbibliothek führte, schrieb zwei Monate später - vermutlich aufgrund dieser 'Affäre' - in Mays Abgangspapiere die folgende Beurteilung: Der Entlassene sei "kalt, gleichgiltig, glatt, hochmüthig".23 Hainer Plaul kommentiert:


Einmal bestraft, einmal mit einer Disziplinarmaßregel belegt (Einzelhaft), aus einer Vertrauensstellung (Büchereidienst) entlassen und sein gesamtes übriges Verhalten (Einschätzung durch Pastor Fischer): nichts wurde vergessen; alles wurde sorgfältig zu seinen Lasten aufgerechnet.24


   Eine Woche vor seiner Entlassung aus Waldheim wurde über May noch eine 'Nebenstrafe' verhängt: Die Kreisdirektion Leipzig ordnete am 25. April 1874, nach Rücksprache mit der Anstaltsleitung in Waldheim, eine Polizeiaufsicht für die Dauer von zwei Jahren an.25

   Am 2.5.1874 öffneten sich für Karl May, nach genau vier Jahren, die Tore des Zuchthauses. Ohne Vertrauenszeugnis (da er über die zweite Disziplinarklasse nicht hinausgekommen war) verließ er den Ort seiner Erniedrigung. Der Aufseher Karl Wilhelm Müller, der wie May aus Ernstthal stammte, erinnerte sich an den Entlassungstag des künftigen Schriftstellers: Er habe im gutmütigen Tone zu May gesagt: "Na, ich bin neugierig, wann wir dich hier wiedersehen!" Da sei May ganz ernst geworden, habe ihm die Hand auf die Schulter gelegt, ihm tief ins Auge gesehen und langsam, jedes Wort betonend, geantwortet: "Herr Schließer, mich sehen Sie hier niemals wieder!"26


//125//

6.12.2

Die 'Verwandlung' des Häftlings


Zu Beginn seines Haftaufenthaltes in Waldheim mußte Karl May, wie alle Neuzugänge, das 'Gebet beim Eintritt in die Strafanstalt' sprechen:


Ach welche Veränderung [...] ist mit mir vorgegangen [...] ich werde eingeschlossen in diese todten, unfreundlichen Mauern [...] Ich bin ein Gefangener und einen Gefangenen nennt mich meine Mitwelt mit Scheu [...] dazu hast Du mich nicht geschaffen, mein Gott und Vater; dazu hast Du mich nicht erlöset, mein Heiland [...] Ich selbst bin die Ursache meines Elends, ich selbst muß mich anklagen und verdammen.27 Ich Frevler bin von Gott gewichen und habe muthwillig gesündigt! [...] Meine Uebertretungen haben mich [...] in diesen Abgrund gestoßen, in welchem ich gefangen liege und jammere [...] O Vater im Himmel, sei mir gnädig! Verwirf mich nicht vor Deinem Angesicht; erbarme Dich Deines Kindes, das voll Jammers ist [...] Ja, ich erkenne meine Missethat voll Schmerz und Reue [...] In dieser meiner Reue will ich dann auch mein bitteres Schicksal sanftmüthig [...] tragen, will die Befehle und Anordnungen meiner Vorgesetzten gehorsam und unverdrossen befolgen, will dieselben als meine Wohltäter erkennen und somit allenthalben meinen Kerker zu einem Tempel Deiner Anbetung machen [...], bis mein Jammer sich in Freude verkehrt, bis meine Gefangenschaft sich wendet und Deine Gnade mich meiner Heimath wiederum zuführt. Bis diese süße Stunde schlägt, will ich [...] sagen: "Warum betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir. Harre auf Gott! denn ich werde es ihm noch danken, daß er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist."28


   Karl May hat dieses, zum Teil aus verschiedenen Buß- und Lobpsalmen zusammengesetzte, Gebet gezwungenermaßen gesprochen, mit unterdrücktem Zorn und innerem Protest sehr wahrscheinlich. Er wird dieses Gebet zunächst nur als fromme Nichtigkeit und bitteren Hohn empfunden haben. Aber es hat sich, in seinem tröstlichen Teil (den man nicht überlesen darf), ganz wörtlich an ihm erfüllt.

   Im Rückblick sah May diese Jahre noch verklärter als die Zwickauer Haft: Sie brachten ihn "sehr weit vorwärts" (S. 175)! Die "Stimmen" hörten auf, ihn zu quälen (S. 176). Und er wurde 'verwandelt'.

   Was in den Zuchthausjahren - innerlich, in der Seele des 'Exerzitanten' - geschah, ist eine Art Wunder. Es ist nicht zu begreifen und nicht zu fassen mit menschlichem Maß:


schweigsamer als irgend sonst bleiben die Dokumente, und was sich in diesem vergitterten Zeitraum vollzieht, die große Wendung, [...] ist zuletzt nur eigentlich im Ergebnis sichtbar. Mysteriös bleibt die Verwandlung in allen Details, und das gerade da, wo May es selber zu ihrer Erklärung an Einzelheiten nicht fehlen ließ.29


   Mays eigene Erklärungen sind hinterfragbar, gewiß. Als religiöses Bekenntnis sind sie aber doch wichtig und sehr bedenkenswert. Sein Wirken als Organist bei den Gottesdiensten, der Klang der Orgel und die Überzeugungskraft eines wirklichen Christen, das waren, in der Sicht Karl Mays, die entscheidenden Faktoren. Er fand, wie er versichert, sich selbst. Er fand seine Seele: "Sie kehrte auf demselben Weg zurück, auf dem ich sie verloren hatte, auf dem Weg der Religion [...] Bei den Klängen der Orgel fand ich wieder zu mir zurück."30

   Was hat sich ereignet? Eine Bekehrung, eine Abkehr des Sträflings vom absolut Bösen? Nein; denn May ist, wie Stolte schrieb, nie wirklich 'böse' gewesen.31 Aber das Gute, das in seinem Herzen verschüttet war, wurde nun freigelegt.

   Nach May war es der Katechet Johannes Kochta, der die Wende herbeiführte. In ihm lernte der Häftling, nach so vielen Enttäuschungen, einen glaubwürdigen Vertreter des Christentums kennen. Die Freundlichkeit, das Einfühlungsvermögen, vielleicht auch die therapeutischen Fähigkeiten dieses Mannes hielten "meine zurückgekehrte Seele fest, aus reiner Menschlichkeit, ohne den geringsten Versuch, sie für den Papismus zu gewinnen".32 Auch den katholischen Anstaltspfarrer - Kochta war Laie, kein Priester33 - lobt


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May: Wenn der Pfarrer ihn besuchte, "war es stets, als ob bei mir die Sonne zu scheinen beginne" (S. 174).

   Die Waldheimer Gottesdienste berührten May tief, ja sie 'heilten' ihn, wie er glaubte, vollständig.34 "Es liegt noch heut eine unendliche Dankbarkeit für diese Wärme und diese Güte in mir, die sich meiner annahm und keinen einzigen Vorwurf für mich hatte, als alles Andere gegen mich war." (S. 174) Er meint die Gottesdienste, aber auch den Katecheten und den Pfarrer persönlich: "Ich habe sie gesegnet bis auf den heutigen Tag und werde sie segnen, so lange ich lebe! " (Ebd.)

   Welches Verdienst hatte Kochta im Leben Karl Mays? Daß der Katechet den Häftling zum Schreiben anregte",35 kann man nicht sagen. Denn die literarischen Anfänge Mays reichen - mindestens - zurück in die Zwickauer Haft. Aber daß er der Phantasie Karl Mays eine neue Richtung gewiesen und die Rückkehr des Gefangenen zum ursprünglichen Gottesglauben gefordert hat,36 ist sehr wohl möglich.

   Nach Walther Ilmer wäre es denkbar, daß sich in Mays Erinnerung die Bilder und Verdienste des Katecheten Kochta und des Arztes Knecht miteinander vermischten:


Vermuten läßt sich dabei, daß Dr. Knecht, im Erkennen der seelischen wie geistlichen Bedürfnisse seines Patienten Karl May, dem religiösen Moment besondere Aufmerksamkeit geschenkt, die Bedeutung der Gottesbindung und deren Bewährung im Weltlichen - wie sie durch den Laienprediger Kochta repräsentiert wurde - in die Behandlung einbezogen und Mays Dankbarkeit auf Kochta hingelenkt und von sich selbst abgelenkt hatte.37


   Selbst wenn May die Rolle Kochtas überschätzt haben sollte (eine Hypothese, für die es keine zwingenden Gründe gibt),38 worauf es - theologisch gesehen - ankommt, ist allein dies. Der Dichter schreibt seine innere Befreiung nicht sich selbst, nicht der eigenen Anstrengung zu, sondern einer Rettung 'von außen', einer größeren Liebe, die ihn selbst überwand, ihn über sich selbst hinaushob.

   Menschliche Erinnerung sichtet nie bloße Fakten. Sie deutet, was sie erkennt, und interpretiert, was geschehen ist. Für unsere Wahrnehmung gibt es keine Fakten 'an sich', keine 'reinen' Tatsachen, sondern stets nur gedeutetes Sein. Ob 'gläubig' oder 'profan', ausgelegt und interpretiert wird immer, sei es bewußt oder unbewußt!

   "Er fährt mich hinaus in die Weite [...] Er macht meine Finsternis hell [...] Mit meinem Gott überspringe ich Mauern." (Ps 18, 20.29f.) So hatte der alttestamentliche Beter gesungen und so erlebte es Karl May: "Es giebt einen Heiland für alle Menschen und eine Erlösung aus jeder Seelennot".39 May deutet, wie das Gottesvolk in der Wüste, seine Gefangenschaft religiös und seine Befreiung mit den Augen des Glaubens: Gott hat ihn herausgeführt aus 'Ägypten', aus der Knechtschaft des Bösen. Das Zuchthaus sieht er, im Rückblick, als Station seiner Erlösung, als Markstein seiner persönlichen Heilsgeschichte: "Ich rief den Herrn in meiner Noth [...] Da half mein Helfer mir vom Tod".40

   Der Häftling hat sich nicht - wie Arthur Witte meinte - selber erlöst und "am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen".41 Zwar hat er gerungen und den Kampf gegen sich selbst nicht aufgegeben;42 doch Gott hat, so sieht es der Strafentlassene, die Umkehr ermöglicht.43 Wie Gottes Weisheit - in der biblischen Heilsgeschichte - den Propheten Jona aus dem Dunkel des Schiffes, aus der Tiefe des Meeres und dem Rachen des Untiers befreite (Jona 1-2), so hat sie auch May aus der Hand seiner 'Feinde' erlöst: der 'dunklen Stimmen' in ihm.

   Kurze Zeit nach seiner Entlassung aus Waldheim schrieb Karl May im Buch der Liebe:


Es ist etwas Herrliches, Unvergleichliches um eine Seele, welche ihren Gott gefunden hat und nun nichts mehr fühlt von dem Sturme und Drange des Erdenlebens, nach dem Ausspruche des alten Kirchenvaters Augustin: "des Menschen Herz ist ruhelos, bis es ruhet in Gott."44


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   Ja, es wird richtig sein: May hatte, wie der Pelzjäger Hiller in "Weihnacht!", "seinen Gott wiedergefunden und mit ihm das einzig wahre Glück im Erdenleben."45

   Unbestreitbar ist diese Tatsache: Die schrecklichen Mauern konnten May nicht zerbrechen. Was ihm nach der Entlassung gelang, nannte Wollschläger einen Geniestreich, "so ziemlich ohne Beispiel".46 Bleibt dennoch die Frage: Wurde Karl May im Zuchthaus 'geheilt'? Er hat sich geändert und blieb doch er selbst. Sein Charakter ist, wie wir sehen werden, in der Grundstruktur derselbe geblieben. Aber seine Veranlagung, seinen krankhaften Trieb hat May sublimiert. Seinen Hang zur Schwindelei hat er in Positives, in schöpferische Kunst, in poetische Traumwelt, in religiöse Tendenzliteratur und - zuletzt - in prophetische Dichtung verwandelt.47



Anmerkungen


1Seitenangaben in () beziehen sich auf Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg 1910. Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim, New York 21982.
2Vgl. Claus Roxin: Karl May, das Strafrecht und die Literatur. In: JbKMG 1978, S. 9-36 (S. 16).
3Zit. nach Hainer Plaul: Resozialisierung durch "progressiven Strafvollzug". Über Karl Mays Aufenthalt im Zuchthaus zu Waldheim von Mai 1870 bis Mai 1874. In: JbKMG 1976, S. 105-170 (S. 129ff.).
4M. Koppel: Die Vorgeschichte des Zuchthauses zu Waldheim. Grundzüge der historischen Entwicklung der Zuchthausstrafe und ihrer Vollstreckung in Sachsen. Leipzig 1934, S. 156; zit. nach Plaul, wie Anm. 3, S. 112.
5Plaul: Ebd., S. 123.
6Ebd., S. 114.
7Ebd., S. 115 (Binnenzitat: Koppel, wie Anm. 4, S. 132).
8Prügelszenen in Mays literarischem Werk könnten, außer in Kindheitserinnerungen an den Vater, auch in Waldheim einen autobiographischen Hintergrund besitzen; daß May selbst in Waldheim geschlagen wurde, ist allerdings nicht anzunehmen; vgl. Plaul, wie Anm. 3, S. 118f.
9Notiz im Pfarrarchiv 'St. Trinitatis' in Hohenstein-Ernstthal; zit. nach Plaul: Ebd., S. 119.
10Bei Karl May: Der verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends. Hildesheim, New York 1971f. (Reprint der Dresdner Erstausgabe von 1884-86), S. 1002, wird der Häftling Heilmann (der den Häftling May in Waldheim repräsentiert) "wegen Faulheit mit Kostentziehung bestraft"; Hinweis bei Plaul: Ebd., S. 155.
11Plaul: Ebd.
12Zit. nach Plaul: Ebd., S. 127.
13Ebd., S. 135.
14Vgl. ebd., S. 134; Plaul stützt diese These vor allem auf Mays Gedicht Kennst du die Nacht; vgl. oben, S. 89.
15Aus einer Fachbiographie; zit. nach Plaul: Ebd., S. 137.
16Vgl. Plaul: Ebd., S. 142ff.
17Außer Mays eigener Schilderung (in der Selbstbiographie vor allem) gibt es hierfür keine weitere Quelle; für einen Zweifel an der Darstellung Mays gibt es aber keinen Grund.
18Vgl. Klaus Hoffmann: Karl May als "Räuberhauptmann" oder Die Verfolgung rund um die sächsische Erde. Karl Mays Straftaten und sein Aufenthalt 1868 bis 1870, 1. Teil. In: JbKMG 1972/73, S. 215-247 (S. 243).
19Vgl. Plaul, wie Anm. 3, S. 145.
20Ebd., S. 156.
21Vgl. ebd., S. 157.
22Zit. nach Plaul: Ebd., S. 148.
23Zit. nach Plaul: Ebd., S. 149.
24Ebd., S. 153.
25Vgl. ebd., S. 152.


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26Nach Aktenauszügen von Erich Wulffen; zit. nach Plaul: Ebd., S. 154.
27May selbst hat sehr wohl differenziert: An der Schuld des einzelnen ist "auch die Gesamtheit" (Mein Leben und Streben, S. 121) beteiligt!
28Zit. nach Plaul, wie Anm. 3, S. 125f.
29Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 45.
30Karl May: Meine Beichte (28.5.1908). In: Karl May's Gesammelte Werke, Bd. 34: "Ich". Bamberg 361976, S. 15-20 (S. 17).
31Heinz Stolte: Der Volksschriftsteller Karl May. Beitrag zur literarischen Volkskunde (Reprint der Erstausgabe von 1936). Bamberg 1979, S. 40.
32May: Meine Beichte, wie Anm. 30, S. 17.
33Vgl. Joachim Biermann: Einige Bemerkungen zum Anstaltskatecheten Johannes Kochta. In: MKMG 79 (1989), S. 47f.
34May: Meine Beichte, wie Anm. 30, S. 17.
35Hans Wollschläger: "Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt". Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays. In: JbKMG 1972/73, S. 11-92 (S. 48).
36So Franz Cornaro: Bemerkungen zu Karl Mays Manuskript 'Ange et diable'. In: JbKMG 1978, S. 256-263 (S. 261) - Auch Engelbert Botschen: Die Banda Oriental - ein Umweg zur Erlösung. In: JbKMG 1979, S. 186-212 (S. 203ff, bestätigt im wesentlichen die Kochta-Deutung in Mays Selbstbiographie.
37Walther Ilmer: Karl Mays Weihnachten in Karl Mays "Weihnacht!". In: JbKMG 1987, S. 101-137 (S. 135, Anm. 29).
38Das Lehrbuch 'Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt' (laut Mein Leben und Streben, S. 176f., von Kochta May überlassen) wird allerdings eine Fiktion des Dichters sein; vgl. Wollschläger. Karl May, wie Anm. 29, S. 45.
39Karl May: "Weihnacht!". Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXIV. Freiburg 1897, S. 603.
40May: Der verlorene Sohn, wie Anm. 10, S. 1264 (Dankgebet des Ma(y)x Holm); ebenso Karl May: Der Weg zum Glück. Roman aus dem Leben Ludwig des Zweiten. Hildesheim, NewYork 1971 (Reprint der Dresdner Erstausgabe von 1886-88), S. 96 u. 848 - May zitiert hier aus einem Kirchenlied (Evangelisches Kirchengesangsbuch Nr. 233/4).
41Zit. nach Stolte, Volksschriftsteller, wie Anm. 31, S. XIII.
42Arthur Witte; zit. nach Stolte: Ebd.
43Vgl. May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 1, S. 171 f.
44Karl May: Das Buch der Liebe (1875/76). Bd. 1 (Textband). Reprint der KMG. Hamburg 1988, S. 37 (der fortlaufenden Reprint-Paginierung).
45May: "Weihnacht!", wie Anm. 39, S. 622.
46Wollschläger: Karl May, wie Anm. 29, S. 46.
47Zur Deutung der Waldheimer Jahre vgl. auch die - in der Grundtendenz mit meiner Darstellung übereinstimmenden - Ausführungen bei Walther Ilmer: Karl May - Mensch und Schriftsteller. Tragik und Triumph. Husum 1992, S. 38-43.




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