Eine statistische Betrachtung der Handlungsintensität
in Winnetou Bd. 1

von Karlheinz Everts

Statistik und Literatur - paßt das überhaupt zusammen?
Die farbigen, handlungsreichen Schilderungen, wie wir sie bei Karl May finden und so sehr schätzen, und dann die trockenen Zahlen der Statistik?
Die Statistik komprimiert die Sachverhalte, die sie betrachtet, - preßt sie zusammen, daß sie ihren Lebenssaft verlieren, - deshalb ja "die trockene Statistik" -, und dieses Werkzeug will man in Verbindung bringen mit der so lebendigen, von Spannung überfließenden Handlung bei Karl May?
Und doch gibt es Verbindungen und Parallelitäten zwischen diesen beiden diametral gegenüberstehenden Polen. Man findet sie allerdings nicht auf den ersten Blick.

Teilt man aber zum Beispiel einen Text in kleinere, äquidistante Abschnitte und untersucht das Verhalten einer statistischen Erscheinung pro Abschnitt, so erhält man eine Menge von Werten für diese Erscheinung, die man als Kurve über das ganze Werk aufzeichnen kann.
Als Text benutzte ich das Werk "Winnetou Bd. 1", als "statistische Erscheinung" habe ich die durchschnittliche Wortlänge von Substantiven gewählt; für die Länge der Abschnitte nahm ich einen Wert von 4000 - also Abschnitte von jeweils 4000 Wortformen, Satzzeichen eingeschlossen. Die entsprechende Kurve ist in der nachfolgenden Abbildung zu sehen.

Warum gerade die "durchschnittliche Wortlänge von Substantiven"?
Die Erklärung liegt in einer Eigenschaft der deutschen Sprache, nämlich der Möglichkeit, durch Zusammensetzung mehrerer Wörter neue Substantive zu bilden. Zu einer solchen Neubildung gehört nun ein gewisser bewußter gedanklicher Aufwand, der nach meiner Hypothese dem Autor - besonders dem Ich-Autor - in Phasen spannungsgeladener Handlung bei der Niederschrift nicht zur Verfügung steht.

Und warum gerade der "Winnetou"?
Die Wahl dieses Textes ist weitgehend subjektiv begründet; der "Winnetou" war das erste Werk Karl May's, das ich als kleiner Junge in die Hand bekam. Und in meiner persönlichen Rangordnung ist der "Winnetou" immer noch das "erste Werk" unseres Autors, und zwar in jeder Beziehung, wenn ich auch nun nach mehr als fünfzig Jahren Bekanntschaft mit den Schriften May's die Alterswerke und auch die Kolportageromane - jeweils aus unterschiedlichen Gründen - sehr schätzen gelernt habe. Aber auch objektiv gesehen kann man diese Wahl wohl gutheißen. Einerseits strotzt doch wahrlich der "Winnetou" von spannender Handlung, die, in der Ich-Form erzählt, gewißlich den Autor beim Schreiben nicht kalt ließ. Andererseits enthält diese Erzählung lange kontemplative Passagen und Gespräche über Gott und die Welt, die überlegte gedankliche Formulierungen erfordern.

Häufigkeitskurve

In dieser Abbildung bezeichnet die horizontale Skala die Seitenzahlen nach der historisch-kritischen Ausgabe, die vertikale die Wortlängen (Buchstaben pro Wort).

Die abgebildete Kurve zeigt nun auffallend hervorstechende Spitzen und Tiefpunkte, und der Vergleich mit dem Text ergibt eine Parallelität zwischen der Form dieser Kurve einerseits, die dem Betrachter ins Auge fällt, und der Intensität der Handlung andererseits, die ja der Leser immer wieder erspürt.

Die tiefen Täler bezeichnen Teile der Handlung, die vor Spannung bersten; die Spitzen charakterisieren Teile des Werkes, wo die Handlung zurücktritt gegenüber Beschreibungen von Land und Leuten, geschichtlichen Betrachtungen oder Diskussionen über religiöse und weltanschauliche Themen.

Diese Behauptung kann man sofort anhand des Textes nachvollziehen. Einzelne herausragende Stellen dieser Kurve sind mit den Buchstaben A bis N bezeichnet. Diesen entsprechen folgende Abschnitte der Handlung: