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Exkurs 2: Mays Sprachentwicklung in den neunziger Jahren

An einem Einzelbeispiel aus dem zweiten "Silberlöwen"-Band, der Beschreibung der 'Todeskarawane' (SL II, S.319), läßt sich das bisher über Mays schriftstellerische Entwicklung Gesagte brennpunktartig zusammenfassen; zugleich erlaubt dieser Ausschnitt, den Zuwachs an Sprachvermögen und die dieser Ausweitung der literarischen Fähigkeiten zugrundeliegenden Steuerungsprinzipien genauer zu analysieren.

Der Text ist aus einer Vorlage entwickelt: bereits im großen Orientroman findet sich eine weit kürzere Darstellung der Todeskarawane, die insgesamt - mehr oder weniger wörtlich - in den neuen Text übernommen wurde, so daß ein eingehender Vergleich möglich ist (Bagdad (künftig: B), S.286-290, 304-306) (1).

Daß das Sujet der Todeskarawane über das geographisch-kulturgeschichtliche Interesse hinaus für May eine tiefere biographische Bedeutung hatte (die hier außer Betracht bleiben soll), zeigt sich darin, daß er in "Babel und Bibel" B(n Tes(lah "als 'Scheik der Todeskarawane' verkleidet" einführt.

Vergleicht man die beiden bei Fehsenfeld erschienenen Texte (vgl.unten Anhang 1), fällt sofort der unterschiedliche Umfang auf. Die in der Erstfassung aus nicht ganz drei Seiten bzw. 91 Zeilen bestehende Beschreibung ist im 'Silberlöwen' (SL II) auf über 12 Seiten (=399 Zeilen), also das über Vierfache, ausgedehnt.


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Obwohl May zu Beginn ausdrücklich von der "schon früher gegebenen Antwort" spricht, mit der die Frage nach der Todeskarawane "am besten und kürzesten" [!] beantwortet werden könne, begnügt er sich nicht (wie in manchen anderen Fällen (2) mit der knappen früheren Auskunft, sondern weitet den Text stark aus.

Der zunächst naheliegende Verdacht, die Expansion sei durch den ersten Publikationsort "Deutscher Hausschatz" bestimmt (dessen Redaktion honorierte nach Seitenzahl), ist in diesem Fall sicher unbegründet. Der sehr dicht, in großen Blöcken angeordnete Text ist der ansonsten oft zu beobachtenden Art, wie May mit Dialogkurzzeilen rasch Seiten füllt, diametral entgegengesetzt (3). Die nähere Betrachtung zeigt, welche Motive May bei der Bearbeitung der älteren Fassung leiteten; diese strukturiert zwar den "Silberlöwen"-Text nicht nur in der Abfolge der einzelnen Punkte, sondern bis in die Formulierungen hinein, genügte dem Autor aber offenbar weder in sachlicher noch in sprachlicher Hinsicht.

Die Erweiterungen kommen im wesentlichen durch vier Operationen zustande:

Erstens wird der Text auf der grammatisch-semantischen Ebene durch Attribute, Ergänzungen und verdeutlichende Konjunktionen präziser gestaltet; an die Stelle eines einzelnen Worts oder Begriffs treten Umschreibungen oder ausschmückende Wortfiguren, wofür schon gleich die Anfangssätze Beispiele bieten:

Der SchiitDer Muhammedaner schiitischen Glaubens
ein jeder Moslemein jeder Moslem dieser Sekte
Darum (B,S.286)Aus diesem Grunde (SL II, S.3/5)


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Da der Transport der Leichen per Karawane ein sehr kostspieliger ist, so kann er nur von den Reichen ermöglicht werden; [...] (286) [...] aber da die meisten Schiiten in Persien und gar Indien leben und der weite Transport der Leichen also ein außerordentlich kostspieliger ist, so ist es nur dem Reichen möglich, nach seinem Tode nach Kerbela oder Nedschef Ali geschafft und dort beerdigt zu werden; [...] (5)

Zweitens fügt May lange Passagen mit lexikographischen Informationen ein (z.B. über die Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten oder über Kerbela und Nedschef Ali), deren Authentizität durch geographische und Zahlenangaben hervorgehoben wird. Das wenig passende Schiller-Zitat (SL II S.9) unterstreicht ebenso wie die fremdsprachigen Sprechtexte den Anspruch des Autors "Dr.Carl May", seinen Lesern Bildungsgut zu vermitteln.

Besonders auffallend ist jetzt aber drittens die breit angelegte, weite Passagen dominierende Metaphorik: der Religionshaß im Bild der 'Flamme' (SL II, S.4), durch "rot" mit dem Motiv des vergossenen Bluts verbunden; die plastische, wenn auch konventionellen Mustern folgende Beschreibung der Wanderungen der Pilger als "Flußsystem" (SL 11, S. 5 f.), und die Vorstellung der "Leichen" und der "Verwesung" als ausdrückliches Synonym für "Verworfenheit" (SL II, S. 11).

Neben die geographische Information tritt die "symbolische" Übertragung auf andere Bereiche; die gewählten Bildkomplexe entwickeln eine eigenständige Dynamik (4) und entfalten sich in ausgedehnten Metaphernsystemen, die


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mehrere Bedeutungsebenen abdecken (Geographie, Religion, Bewegung der Pilger, moralisches Urteil). Diese mehrfachen Bezugsebenen, zwischen denen der Text wechselt, zeigen deutlich, welchen Zuwachs Mays Gestaltungskraft in den neunziger Jahren gewonnen hatte.

Dazu gehören die nun weitaus häufigeren rhetorischen Mittel (5) ebenso wie der Satzbau: während die Hypotaxen der Erstfassung in der Regel aus zwei bis drei Teilsätzen bestehen, bildet May nun weit ausschwingende Satzgebilde, deren Interpunktionsrepertoire (v.a. Doppelpunkt und Semikolon) wesentlich reichhaltiger und präziser eingesetzt wird als in der fast nur mit Kommas und Punkten arbeitenden Frühform.

Schließlich wird viertens die Beschreibung durch eingelegte Binnenerzählungen aufgelockert, wobei Dialogpassagen die Bildepisoden szenisch vergegenwärtigen (SL II, S.8/12). Zahlreiche Konkreta einerseits (S.8: "Gefäße"-Aufzählung der Opfergaben; S.12: Berufe) metaphorisch gebrauchte Abstrakta andererseits steigern die Anschaulichkeit dieser Teilerzählungen, wobei May der Gefahr der Klischeebildung, ja sogar unfreiwilliger Komik nicht durchweg entgeht, etwa wenn der "einsame Reiter" ausruft: "Gott,o Gott, da steigen einem die Haare zu Bergel" (S.8) Die Mehrung des May zu Gebote stehenden Vokabulars ist beim Vergleich der beiden Fassungen unübersehbar. Nicht nur die durchweg plastischen Verben sowie die Fremdwörter, sondern auch die hier etwas selteneren, in den Werken der späten neunziger Jahre aber sonst vielfach auftretenden Wortspiele zeigen ("der Arme aber muß sich selbst


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transportieren"(SL II, S.5), daß er nun viel souveräner als Anfang der achtziger Jahre über seine Sprache verfügt. Auch jetzt noch - und nach 1900 - gilt zwar Hans Wollschlägers Diktum, May habe die Defizite des Autodidakten nie ganz abschütteln können (6), aber der Zuwachs an Ausdrucksfähigkeit bleibt doch bemerkenswert.

Daß der Erweiterung eine bewußte Schreibstrategie und nicht etwa eine ungenaue Erinnerung an den älteren Text zugrundeliegt, zeigen nicht nur die wörtlichen Entsprechungen, sondern auch die beiden im "Silberlöwen" unmittelbar anschließenden Episoden (Bagdad, S.289 f., 304-306; SL II, S. 15-19), von denen im Anhang nur die "Fakir"-Szene als Beleg mitgeteilt wird: beide finden sich bereits im älteren Text und sind weitgehend wörtlich in die Neufassung übernommen, obwohl auch hier Detailkorrekturen in sprachlicher oder sachlicher Hinsicht festzustellen sind.


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Anmerkungen zu: Exkurs 2. Mays Sprachentwicklung

1 Vgl. die Synopse Anhang 1. - 1896 verfaßte May noch eine weitere Beschreibung der "Todeskarawane" nach einer Illustration, die in der katholischen Zeitschrift "Alte und Neue Welt" erschien (Verlag Benziger Co., Einsiedeln-Waldshut-Köln, Jg.1896, S.95 f. Neudruck und nähere Angaben in MKMG Nr.24 (1975), 2-6). Der Text zeigt nur zu kleineren Teilen Ubereinstimmungen mit den beiden hier analysierten Fassungen und soll deshalb außer Betracht bleiben.

2 Z.B in "Und Friede auf Erden!", wo er wörtlich aus der älteren Erzählung "Der Girl-Robber" die Charakteristik Sir John Raffleys übernimmt (Friede, 228-231).

3 Beispiele für Zeilenfüllen: Bagdad, 64-67, 255-261, 620-634 u.ö.; zur Frage der Folgen des Seitenhonorars vgl. auch Vinzenz, JbKMG 1982, 219, und Roland Schmid in F-R KMV "Pfade"(XXIII), A 21 - A28.

4 Zur Metaphorik "rot"-"Flamme"-Blut" vgl. Büssinade, JbKMG 1986, S.252 f.

5 Besonders gehäuft bei der Beschreibung des Pilger-"Stroms" (Silberlöwe 11, 5 f): Parallelismus, Ausrufe, Klimax etc.

6 Wollschläger 1976, S.80.


Karl Mays Werk 1895-1905

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