- 196 -

VI. "Im Reiche des silbernen Löwen", Band III/IV

1. "In Basra", das Übergangskapitel

Als der Zeitschriftenabdruck von "Im Reiche des silbernen Löwen" im "Deutschen Hausschatz" 1898 abgebrochen wurde, hatte May bereits den Anfang einer Fortsetzung des "für vier [Fehsenfeld-] Bände berechnet[en]" Werks an den Verlag Pustet geliefert (1). Nichts deutet darauf hin, daß ein genaues Konzept für die Fortsetzung vorhanden war; wie oben gezeigt wurde, ist die "Turm zu Babel"-Handlung weitgehend in sich abgeschlossen und weist kaum weiterführende Handlungsfäden auf.

In der ersten Septemberhälfte 1898 kündigte der "Deutsche Hausschatz" die Fortsetzung des Romans an (2), um dann - nach dem Bruch mit May - anfragende Leser mit dem Hinweis auf die bisher "erst etwa 100 Seiten Handschrift" um Geduld zu bitten (3).

Nach einer längeren literarischen Kontroverse in der "Reichspost", Wien (4), ging schließlich das Manuskriptfragment von 1898 im Juli 1901 an den Autor zurück. Am 27.Juli 1901 kündigte er in einem Brief an Fehsenfeld an, "'Im Reiche des silbernen Löwen' wird 4 Bände stark." Nachdem er im Herbst "Et in terra pax" vollendet und die polemische Broschüre "Karl May als Erzieher" verfaßt hatte, lockte er zum Jahresende 1901 den Verleger mit dem "Silberlöwen"-Text, ein Beleg dafür, daß noch kein Manuskript nach Freiburg abgegangen war (auch nicht das bereits geschriebene "Basra"-Kapitel): Wenn Fehsenfeld "schnell" zwanzig


- 197 -

Exemplare der Broschüre schicke, "sende ich sofort Manuscript zum 'Silberlöwen'." (5)

Vom 15. Februar 1902 an erschien dann im Koblenzer "Rhein- und Moselboten". "Am Tode. Reiseerzählung von Karl May.", der erste neu geschriebene Teil der späteren "Silberlöwen"Bände III und IV. (6) In der Nacht auf den 9.Februar hatte May "mit der Niederschrift" begonnen (7). Anfang April 1902 schließlich bereitete er, während der Abdruck von "Am Tode" noch bis zum 29.April lief, bereits die Buchausgabe vor:

er nahm das von Pustet zurückerhaltene ältere Manukript mit dem Titel 'Der Löwe von Farsistan' wieder vor (A 1, 1-100 = SL III, 1-58), überklebte diesen (Titel) mit 'In Basra' und strich den kurzen Schluß, um einen neuen zu schreiben, der das Kapitel isolierte (A 2,1 101-114 = SL III, 58-66). Am 4.4.1902 ging dieses Manuskript an die Druckerei [...] (8)

So schildert Hans Wollschläger die Bearbeitung des "Basra"-Kapitels; über den Umfang des geplanten "Silberlöwen"-Romans war sich May zu diesem Zeitpunkt offenbar noch völlig im Unklaren. "Vielleicht werden es zusammen 5 Bände" heißt es am 6. Februar 1902; Anfang April dagegen sind es "diese 3 - 5 Bände", die "so gut und rasch wie möglich hinauszubringen" sind (9).

Zu der Frage, warum er das offensichtlich kaum geeignete Manuskript als Vorspann zu den neuen Teilen des "Silberlöwen" verwendete, liegen keine Zeugnisse des Autors vor. Die nach 1900 entwickelte neue literarische Qualität seines Werks, dem Verleger Zieger gegenüber im Vorjahr vehement artikuliert und verteidigt, hätte ihn eigentlich von diesem Schritt abhalten müssen, zumal Umfangsgründe (wie bei "Ein Räthsel") für die Wiederverwendung am Romananfang nicht verantwortlich sein können.


- 198 -

Einige Motive lassen sich vermuten.

Nachdem die Ursachen für den Bruch mit Pustet in der "Reichspost"-Fehde im April-Mai 1901 öffentlich erörtert worden waren und nachdem May die Rückgabe der ersten, bereits 1898 gelieferten Manuskriptseiten durchgesetzt hatte, wollte er diesen Text auch tatsächlich verwenden, wenn er ihn auch noch nicht stringent in den erst noch zu entwerfenden Handlungsablauf einfügen konnte. In dieser Phase scharfer Auseinandersetzungen um sein Werk kam es ihm vor allem darauf an, die Kontinuität seines Schreibens hervorzuheben. Da seine für ihn selbst so erstaunliche Neuorientierung nach 1900 bei den Lesern und insbesondere bei seinen verlegerischen Bezugspartnern (Fehsenfeld, Zieger, Kürschner usw.) auf wenig Gegenliebe stieß, begann er noch im Herbst 1901 in "Karl May als Erzieher" mit der öffentlichen Neuinterpretation seiner bisherigen Erzählungen. Schon auf der zweiten Seite dieser Selbst-Darstellung weist er darauf hin, daß seine bisherigen

Werke nicht oberflächlich gelesen werden dürfen. [...] Sie sind nämlich etwas ganz anderes, als das, was sie dem leichtfertig darüber hinfliegenden Auge zu sein scheinen. (DL, 4)

Dem Zurückschauenden fügt sich das eigene Oeuvre zu einer fugenlosen, harmonischen Entwicklung (ob dabei Daten und Details verschwimmen, ficht den polemisch sich Verteidigenden wenig an); bereits hier wird, wenn auch noch nicht explizit, die These von der tieferen (später: der "symbolischen") Bedeutung der Reiseerzählungen vorgetragen.


- 199 -

Dem unvollendet abgebrochenen "Silberlöwen" kommt dabei eine Schlüsselstellung zu: er soll die beiden Teile des Werks vor und nach der Orientreise verknüpfen und ihre Einheit unter Beweis stellen. Gleichzeitig bedeutet die Wiederaufnahme des Romans die Rückkehr zum Genre der Reiseerzählung im alten Stil; infolgedessen war es für May weitaus schwieriger als bei dem vollkommenen Neuansatz von "Et in terra pax", einen stimmigen Handlungsansatz zu entwickeln, der gleichzeitig bereits Vorhandenes fortführt und zugleich den neuen Qualitätsansprüchen gerecht wird. Nun nämlich rächten sich die jahrzehntelang eingeschliffenen Schreib- und Drucklegungstechniken. Der Text ging partienweise in den Satz, und die Folge davon war, daß der dritte und vierte Band sich als Textkonglomerat auf den unterschiedlichsten literarischen Text- und Handlungs-Ebenen darstellt.

Aus dem "Dankbaren Leser" sind einige Denkfiguren und Bilder abzuleiten, die einen vagen Entwurf ergeben, wie die "Silberlöwen"-Handlung fortzuführen wäre: Der Streit mit dem Kölner Verlag Bachem lieferte das Stichwort (Wüsten-) "Räuber", ausgeführt in "Am Tode" und ergänzt um die aus dem Orientroman ("Die Todes-Karavane") übernommene Krankheitsmetapher (10), und die Beschreibung des eigenen Werks führte auf eine die Broschüre strukturierende Parabel, das biblische Gleichnis vom Sämann (11).

Damit war ein Orts- und Rollenkonzept gegeben: Platz und Personal für ein längeres Gedankenspiel standen bereit und der Autor machte sich daran, die Brücke aus dem real existierenden Basra in "eine der vielen Unendlichkeiten", in die Imagination, zu schlagen (12).


- 200 -

Bei der Betrachtung des "Basra"-Kapitels muß man zwischen dem ersten, für Pustet geschriebenen Teil und den 1902 hinzugefügten Schlußseiten unterscheiden.

Weder bei den Personen noch in der Handlung des ursprünglichen Texts, "Der Löwe von Farsistan" (13), lassen sich überzeugende Ansätze einer weiterführenden Entwicklung erkennen. An den Aufenthalt im Kaffeehaus in Basra sollte wohl die Fahrt mit dem Dampfer nach dem Hafen Buschehr anschließen; von dort aus wären dann Kara ben Nemsi, Halef und Lord Lindsay weiter nach Schiras geritten. Der einzige vorausdeutende Hinweis bleibt bedeutungslos, da der Brief Esaras des Einäugigen an Ghulam el Multasim mit dem frappierenden Hinweis auf die Heiligkeit des Briefgeheimnisses weder geöffnet noch gelesen wird. Auch das langatmig wiedergegebene Gespräch Kara ben Nemsis mit dem betrunkenen Kaffeewirt erbringt keine genaueren Angaben über Absender und Adressaten des Schreibens (SL 111, 51 ff.)

Von den Figuren der Episode überrascht allein Sir David Lindsay, auch er - wie die Struktur der Handlung - eigentlich ein Versatzstück aus älteren Texten (14). Ein erster Unterschied zu seiner früheren Beschreibung trägt eher parodistische Züge: Sir David hat anstelle der "doppelläufige[n] Pistole" von damals "ein ungewöhnlich großes Gewehr" und "ein kleineres, welches auch in einer graukarrirten Umhüllung steckte" (SL III, 7) - offenbar eine Imitation Kara ben Nemsis und seiner beiden Gewehre. Bedeutsamer ist die andere Neuerung, "daß er plötzlich das Arabische nicht nur verstand, sondern es, freilich noch sehr fehlerhaft, auch sprach!" (SL III, 10). Indem Lindsay beschreibt, wie sehr er sich anstrengen mußte, um Arabisch zu lernen, hebt er eigentlich die außerordentliche Leistung des Sprachgenies Kara ben Nemsi alias Karl May hervor, der bescheiden kommentiert:

Ich weiß am besten, wie groß die Mühe gewesen ist, die Ihr darauf verwendet haben müßt [...] Ihr müßt ja geradezu wie ein Pferd gearbeitet haben!" (SL III, 37)

In früheren Erzählungen hatte sich Lindsay beharrlich geweigert, die Sprachen seiner Reiseländer zu erlernen. Die Änderung dieser Haltung des nationalstolzen Engländers bezeichnet, und insofern schließt sich der neu geschriebene Schluß des Kapitels an den Text von 1898 an, einen Übergang zu den antiimperialistischen Zielsetzungen des Spätwerks (15).

In diesem Schlußteil wird der englische Lord in scharfem Gegensatz zu seinen beiden englischen Bekannten dargestellt, karikaturistisch überzeichneten Vertretern imperialistischer Rassetheorien, die sich sogar über Halef und Kara ben Nemsi mokieren (16):

Wieder einmal deine [Lindsays] alte, wohlbekannte Humanitätsbetrunkenheit! Hast ganz vergessen, welche Entfernungen zwischen Mensch im niedern und Mensch im höhern Sinne liegen! (SL III,61)

Und Scheik? Kann nicht imponieren. Orang bleibt Orang, auch wenn er der Anführer anderer Orangs ist! Und der zweite Kerl, für den ich gar nicht vorhanden zu sein scheine? Impertinentes Gesicht! (SL 111,62)


- 201 -

Das Kapitel endet - sehr überraschend - damit, daß der eben eingeführte Lord wieder eliminiert wird; die letzten Sätze leiten bereits über zu den Krankheitsbildern von "Am Tode". Basra als Ort "auf versumpfrem Grunde, welcher gefährliche Miasmen erzeugt" (SL III, 3), hat auch Halef und Kara ben Nemsi angesteckt.


- 202 -

2. "Am Tode": Verschlüsselung des Abenteuers

Um die Entwicklung Mays, die sich in den Jahren 1902/03 parallel mit dem und durch das Schreiben der letzten beiden "Silberlöwen"-Bände vollzog, richtig einzuschätzen, ist es nötig, zunächst seine Situation um die Jahreswende 1901/02 näher zu umreißen.

Nachdem er unter sorgfältigen Abschirmmaßnahmen den Druck der Broschüre "Karl May als Erzieher" im Spätherbst 1901 vorbereitet hatte (17), sollte Fehsenfeld das Heft am 13.Januar 1902 in der außergewöhnlich hohen Zahl von 100.000 Exemplaren zu einem Endpreis von 10 Pfennig, d.h. praktisch ohne eigenen Gewinn, eher mit einem zu erwartenden Verlust, schlagartig in alle deutschen Buchhandlungen bringen. Der Termin war von ihm mit Bedacht gewählt: am 14. Januar 1902 wollte nämlich Hermann Cardauns, der Chefredakteur der "Kölnischen Volkszeitung", in Elberfeld seinen bereits in anderen Städten gehaltenen Vortrag über "Litterarische Curiosa (Karl May usw.)" wiederholen (18), wozu May eigens nach Düsseldorf reiste, um das Geschehen aus der Nähe zu beobachten (19). Das Verhältnis zu Fehsenfeld war zu diesem Zeitpunkt offenbar auf einem Tiefpunkt angelangt; von beiden Seiten wuchs die Verbitterung. Während der Verleger das Verhalten und auch die brieflichen Äußerungen seines Autors immer befremdlicher finden mußte, fühlte sich dieser mißverstanden und abgelehnt.

Noch im Spätherbst, während er am "Dankbaren Leser" schrieb (so der Untertitel der geplanten Broschüre, der heute meist als Titel zitiert wird), antwortete er auf die


- 203 -

Anfrage eines kritischen Verehrers, der über Cardaunīs Vorwurf beunruhigt war, May habe "mit abgründlicher Unsittlichkeit" Kolportageromane "mehr oder minder pornographischen Inhaltes" (21) geschrieben:

Die gegen mich gerichteten Angriffe sind keineswegs im Stande, auf meine Seelenruhe störend einzuwirken. Ich betrachte und behandle diese Gegenströmung so, wie sie betrachtet und behandelt werden muß. Sie trägt mir die Gebilde einer mir bisher unbekannten geistigen Atmosphäre zu, und ich lausche schweigend, um ja nicht durch störende Einwürfe zu verscheuchen, was meine Menschenkenntniß zu bereichern hat. (22)

Das sind gegenüber den von Cardauns vorgebrachten massiven Beschuldigungen befremdliche Worte, und die veröffentlichende Redaktion kommentiert denn auch (mit zurückhaltender Formulierung) die im Brief "versuchte Vertheidigung" (23) sei "nicht als vollkommen gelungen" zu betrachten Aber May war wohl zu diesem Zeitpunkt schon entschlossen, seine Verteidigung auf einem ganz anderen Schauplatz zu führen, ohne allerdings einsichtsvoll auf die lautstarken öffentlichen Kampfmittel zu verzichten: von Erwiderungen in bezahlten Riesenanzeigen (24) über werbende und das eigene Werk kommentierende Flugblätter oder Broschüren (25) bis hin zu den zahlreichen, immer mehr anwachsenden Gerichtsverfahren (26) reichten seine Maßnahmen gegen die Angriffe. Immer wieder setzte er sich polemisch und/oder erläuternd - teilweise auf satirisch-brillante Weise - mit seinen tatsächlichen oder vermeintlichen Gegnern auseinander, wenn auch häufig nicht exakt am Kern der jeweiligen Sachlage. Sein Auftreten in der Öffentlichkeit war zu dieser Zeit von verschiedenen, nicht ganz widerspruchsfreien Impulsen bestimmt.


- 204 -

Zwar wollte er seine Münchhausiaden der neunziger Jahre, die Old-Shatterhand-Legende, in aller Stille preisgeben (die fotografischen Platten mit den Kostümfotos soll er 1902 bei Linz in der Donau versenkt haben (27), ohne aber andererseits direkt und unverhohlen zuzugeben, daß die Erzählungen, die seinen Ruhm begründet hatten, rein fiktional waren und nicht auf realen "Reiseerlebnissen" beruhten. So entwickelte er mehrere Legitimationskonzepte, die einerseits die Wahrheit mitteilen, sie jedoch so verschlüsseln sollten, daß sie nur bei genauerem Zusehen erkennbar war, und er nicht eindeutig darauf festgelegt werden konnte.

Bereits in "Et in terra pax" hatte er in mehreren Passagen eine schon in den neunziger Jahren von ihm gern verwendete Technik fortgesetzt: das literarische Werk als "Schwarzes Brett" (28) für teils werkbezogene, teils aber auch persönliche Bekanntmachungen an die Lesergemeinde zu verwenden. Wiederholt unterhalten sich in 'Pax' die Figuren des Romans über Werke des Schriftstellers Karl May, insbesondere über seinen letzten Roman "Am Jenseits", den sie teilweise im Verlauf der Handlung lesen und im Sinne des Autors kommentieren. Diese Deutung durch vom Verfasser selbst gesetzte "Ideal-Leser" soll dem "Pax"-Rezipienten eine über das Einzelwerk hinausreichende, z.T. nicht ohne Selbstironie vorgetragene Verständnishilfe bieten:

Schriftstellernder Schalk! Weltreisender Volksseelenforscher! Alles personificierender oder symbolisierender Bücherschreiber! Jede Eurer Gestalten, die edelste wie die gewöhnlichste, ist ja die Individualisierung und also die Lösung irgend eines menschen- oder völkerpsychologischen Problems! (Pax, Sp.281)


- 205 -

Hier wird am Ende des Romans noch einmal ausgesprochen, was schon mehrfach vorher mitgeteilt wurde, nämlich daß alle bisherigen "Reiseerzählungen vor allen Dingen symbolisch zu nehmen sind."(Pax, Sp.275 f.)

Bezeichnenderweise entfielen diese Einzelhinweise bei der Überarbeitung des Werks 1903/04: inzwischen hatte May die These von der symbolischen Bedeutung seines gesamten Werks nicht nur durch mehrere verschiedenartige Belege zu untermauern versucht (insbesondere dadurch, daß er zwei neu geschriebene 'symbolische' Erzählungen in die Neuausgabe seiner ansonsten frühen "Erzgebirgischen Dorfgeschichten" einschmuggelte (29), sondern er hatte diese Behauptung in ein umfassendes Argumentationssystem eingebaut.

Diese Selbstinterpretation hatte mehrere, in sich widersprüchliche Aufgaben zu lösen:

Zur Distanzierung von der Old-Shatterhand-Legende mußte als erstes den Lesern der fiktionale Charakter der Reiseerzählungen signalisiert werden, ohne aber den Anspruch auf Realitätsbezüge gänzlich aufzugeben, wobei offenbleiben sollte, welcher Anteil an real Erlebtem dem Beschriebenen zugrundelag. Das "Symbolik"-Modell bot hier die Möglichkeit, auf den in jedem Symbol enthaltenen Wirklichkeitsgehalt zu verweisen und zugleich dem Leser nahezulegen, daß der Inhalt nicht als unmittelbare Realitätswiedergabe von "Selbsterlebtem" (30) zu betrachten war. Da insbesondere die für Fehsenfeld geschriebenen Romane der neunziger Jahre auf mindestens zwei Handlungsebenen strukturiert waren (mehr oder weniger gelungen), schien diese Erklärung auch durch das Werk belegbar.


- 206 -

Ein weiteres Problem bildeten die Kolportageromane: da er, um seine Chancen im Prozeß gegen die Firma Münchmeyer nicht von vornherein aussichtslos werden zu lassen (31), nicht eingestehen durfte, diese Texte vor allem aus finanziellen Motiven geschrieben zu haben, stellte sich die Frage, auf welche Weise sie in das Gesamtwerk zu integrieren waren. Dabei schlug May eine Taktik ein, die zwei Argumentationslinien vorsah: er spaltete (1) den Textbestand der Münchmeyer-Romane auf in einen veröffentlichten, den er als von fremder Hand verfälscht definierte, und in einen kryptischen, eigentlichen und von ihm selbst stammenden Text. Aufgrund der Tatsache, daß die Manuskripte nicht erhalten waren, war diese Darstellung anscheinend nicht widerlegbar (32); zugleich konnte (2) der kryptische, allein dem Verfasser (und den Druckern der Firma Münchmeyer) bekannte Text in die harmonische und innerlich konsequente Entwicklung des Oeuvre eingegliedert werden.

Ein letztes Problem stellte sich durch die neuen Tendenzen, wie sie sich in "Et in terra pax" abzeichneten: der weitgehende Verzicht auf äußere Abenteuer, die psychologische Durchformung und Vertiefung der Handlung und die pazifistisch-antiimperialistischen Tendenzen standen quer zu allen Erwartungen, wie sie die meisten Leser aufgrund der Reiseerzählungen entwickelt hatten. Infolgedessen mußte May versuchen, sein Publikum durch Rezeptionshinweise für die jetzt entstehenden Werke samt der. darin enthaltenen neuartigen Handlungskonstituenten zu gewinnen. Die Reaktionen des Verlegers Hermann Zieger und des Herausgebers


- 207 -

Joseph Kürschner im Fall des "Pax"-Romans hatten ebenso wie Fehsenfelds immer erneutes Drängen, die Reiseerzählungen fortzuschreiben, gezeigt, welche Rezeptionsprobleme aus dem neuen Schreibduktus zu erwarten waren. (33)

Fehsenfeld gegenüber wurde der Ausgangspunkt der neuen Selbst-Darstellung unmittelbar nach der Rückkehr aus dem Orient auch zuerst formuliert: alle "bisherigen Bände sind nur Einleitung, nur Vorbereitung." (34) Immer erneut wiederholt und vielfältig variiert durchzieht diese Aussage die folgenden Jahre: "nur Federzeichnungen, nur Skizzen, Vorübungen, Etüden" seien die bisherigen Werke, während das "eigentliche Werk" (35), Apotheose und letztes Endziel des Mayschen Schreibens, noch in der Zukunft liege.

Diese - scheinbare - Abwertung der Reiseerzählungen wird dadurch ausgeglichen, daß sie in ein stringentes Erklärungsmodell eingefügt werden, demzufolge "Karl May [...] seine psychologischen Reisen in Band 1 in der Wüste angefangen", und mit großer Systematik seine Werke "nach einem festen Plan, von welchem nicht abgewichen wird" (36), geschrieben habe.

Die Entwicklungen, wie sie sich bereits vor 1900 mehr und mehr abzeichneten, traten spätestens mit "Et in terra pax" unübersehbar zutage. Mays Diskursebene, d.h. seine ästhetischen und politischen Positionen, hatte sich einschneidend verändert und damit auch Form und Inhalte des Werks. Die allermeisten Leser dagegen beharrten auf dem Rezeptionshorizont der Reiseerzählungen: sie wollten spannende Abenteuer, Komik und Exotik in endloser Variation.


- 208 -

Während sich die Angriffe gegen ihn in den Folgejahren, insbesondere nach 1905, massiv steigerten und schließlich existenzgefährdend nicht nur im äußeren Sinn des bürgerlichen Lebens, sondern mehr noch durch die Erschütterung des persönlichen und literarischen Selbstbilds werden sollten, vollzog sich mit ihm selbst ein zweifacher Wandel.

Sein Auftreten und seine Äußerungen in der Öffentlichkeit, mit denen er zunächst noch polemisch-elegant auf die Gegner reagierte, verzerrten sich zu immer seltsameren, psychotisch-wahnhaft wirkenden Ausdrucksformen, während gleichzeitig seinem Werk neue, ihn selbst überraschende Dimensionen zuwuchsen. Die Techniken der bewußten Verschlüsselung von Realmaterialien aus der Zeitgenossenschaft ebenso wie die Entdeckung "vollständig neuer Sujet-Welten" als "Pionier eines bisher unbekannten literarischen und künstlerischen far west" (37) der Anspruch, "Völker- und Menschheitspsycholog" zu sein (38), werden in den folgenden Jahren perfektioniert. Die Anfeindungen von den verschiedensten Seiten (39) nötigen ihn ebenso wie das Befremden der (wenig dankbaren) Leser dazu, seine literarische Position immer wieder auch theoretisch zu reflektieren und darzustellen.

Mit den zunehmenden Rechtfertigungszwängen gehen die Widersprüche seiner Argumentation auch in das Werk selbst ein, weil May jede Gelegenheit wahrnimmt, die Leser auf die neue Diskursebene einzustimmen.


- 209 -

Im Rahmen dieser Entwicklung zeigt "Am Tode" alle Züge eines Übergangs.

In der zweiten Januarhälfte 1902 stellte sich heraus, daß Mays persönliche Aktionen gegen Cardauns und gegen dessen Elberfelder Vortrag ebensowenig erfolgreich waren wie die Abwehrbroschüre, der "Hieb", der "die Gegner vollständig ahnungslos treffen" sollte (40). Dies brachte ihn zu dem Entschluß, die Kontroverse auf literarisches Terrain zu verlagern, um, wie sein großes Vorbild Lessing, "dem Feinde auf einer anderen Seite damit in die Flanke [zu] fallen." (41).

Ausgelöst wurde der Vorsatz möglicherweise durch die Nachricht, daß Cardauns am 18.Februar 1902 in Koblenz seinen Vortrag wiederholen wollte. Dort war der Verlagsort des "Rhein- und Moselboten", einer Zeitung, mit deren Chefredakteur Johann Dederle May schon seit Jahren in freundschaftlichem Kontakt stand (42), und dem er bereits mehrfach die Erstveröffentlichung einer (Reise-)Erzählung versprochen hatte (43). Mitte Januar muß der Entschluß (44) gefallen sein; am 6.2.1902 benachrichtigte eine Karte den Verleger, "daß wahrscheinlich schon nächste Woche Manuscript vom Bd.III des 'Silberlöwen' abgehen wird" (44). Die Niederschrift begann May "in der Nacht auf den 9.2. (45). "Am Tode", im Titel deutlich an "Am Jenseits" anklingend, scheint gegenüber der realistischen und psychologisch vertieften "Pax"-Handlung zunächst ein Rückschritt.

Der Handlungsablauf wird bestimmt von Motiven aus älteren Werken: der Auftakt bei Regen/Gewitter und die Beraubung/


- 210 -

Überwältigung Kara ben Nemsis und Halefs entsprechen der "Umm ed Dschamahl", an die auch der Handlungsort Kurdistan erinnert. Das eröffnende Gespräch mit Halef über das Sterben verweist ebenso wie der kühne Sprung über den Abgrund am Ende der Zeitungsfassung auf den großen Orientroman, als dessen Abbreviatur und Teilreprise das Geschehen sichtlich angelegt ist (46). Weitere Abenteuerelemente (Raub der Waffen, Verfolgung von Räubern, Spurenlesen, das Rätsel um den angeblichen Fakir) unterstreichen die Absicht, das frühere Repertoire aufzugreifen. Anders freilich als die von der Struktur her ähnlich retrospektiv angelegte "Turm zu Babel"-Handlung enthüllt sich "Am Tode" bei genauerem Zusehen sehr bald als doppelt codiert: hinter der Oberfläche der Abenteuer steht der Versuch Mays, seine literaturpolitische Situation in den ersten Monaten 1902, insbesondere seine Fehden mit dem Kölner Verlag Bachem bzw. mit Hermann Cardauns, in verschlüsselter Form darzustellen.

Schon im Vorjahr hatte das "Gleichnis für Zieger", nur innerhalb der Korrespondenz mit dem Leipziger Verleger verwendet, Mays Sicht der Auseinandersetzungen um "Et in terra pax" in parabolischer Form mit orientalisierender Einkleidung vorgetragen (47) ; "Am Tode" war der erste öffentliche Versuch mit dieser Darstellungsweise (48). Den zentralen Punkt bildet eine Metapher, die bereits vor 1900 in Mays privater 'Mythologie' eine ähnliche Bedeutung gehabt haben muß: das Reiten und alles, was


- 211 -

dazugehört (Pferde, Schnelligkeit etc.) wird gleichgesetzt mit der schriftstellerischen Tätigkeit. Dieses Bild greift einerseits auf die alte Pegasustradition zurück, läßt sich andererseits aber auch problemlos in das Handlungsmuster der Abenteuererzählungen vor 1900 einfügen. Aus diesem grundlegenden Bauelement entwickelt sich eine Fülle von Gleichsetzungen, bis in die Details hinein, durch die die scheinbare "Räubergeschichte" überlagert und letztlich strukturiert wird.

Mays neuartige Leistung besteht darin, daß er auch die Formulierungen semantisch mehrdeutig anlegt, etwa wenn Halef sich in einer dem Urheberrecht abgelauschten Diktion darüber empört, daß einer der Räuber "unseren Barkh oder unseren Assil Ben Rih geschlagen" habe "und mit dem Knüppel also eine Stelle bearbeitet, die gar nicht sein rechtmäßiges Eigentum ist." (SL III, 86). Auch die Charaktere der Figuren sind nun auf mehrere Bedeutungsebenen bezogen, weil May sie aus unterschiedlichen Wirklichkeitssegmenten realer Personen zusammensetzt. Dieser Wechsel der Bezugsebene macht eine Deutung schwierig, zumal sich bei einzelnen Figuren die Funktion und damit auch ihre Kennzeichnung mit der fortschreitenden Handlung wandeln.

Die Grundstruktur des Texts besteht aus wenigen Handlungselementen:

Kara ben Nemsi und Halef werden durch opiumhaltigen Kaffee betäubt und ihrer Pferde und Waffen beraubt. Bei der Verfolgung der Räuber stoßen sie auf Nafar ben Schuri, angeblich Scheik der Dinarun, in Wirklichkeit Anführer des räuberischen Stamms der 'Massaban', "Ausgestoßene aus allen Stämmen, die es in dieser Gegend giebt." (SL III, 222). Er will die beiden Helden unbedingt bewegen, sich mit ihm zu verbünden; ihre Kleider hat er bei sich und will ihnen auch helfen, die Pferde und Waffen zurückzubekommen.


- 212 -

Eine als Fakir verkleidete Gestalt, der "Peder" der "Dschamikun", warnt Kara ben Nemsi und Halef vor Nafar ben Schuriler lädt beide ein, sich von den Dinarun zu trennen und zum Stamm der Dschamikun zu kommen.

Der Weg mit den Dinarun führt die beiden in das "Thal des Sackes", in eine "Sackgasse", aus der sie sich nur durch einen kühnen Sprung über einen Abgrund befreien können. Nach dem Sprung brechen beide zusammen; der Ich-Erzähler erwacht erst im Tal der Dschamikun aus der Ohnmacht.

In diese Grundkonstruktion sind zahlreiche Anspielungen und Gleichsetzungen eingebaut, die Mays literarischen Lebensweg nachzeichnen und mit seinen Gegnern, aber auch z.T. mit seinen Freunden abrechnen. Schon im eröffnenden Gespräch Kara ben Nemsis mit Halef wird das "Sterben" als Bild für den Wandel der literarischen Bezugsebene deutlich thematisiert:

Ich habe aufzuhören, zu sein, der ich war, und ich habe anzufangen, ein ganz anderer zu werden. Ich habe zu sterben, an jedem Tage und an jeder Stunde, und an jedem dieser Tage und an jeder dieser Stunden wird dafür etwas Neues und Besseres in mir geboren werden. Und wenn der letzte Rest des Alten verschwunden ist, so bin ich völlig neu geworden. (SL 111, 72)

Nach diesem Einleitungsgespräch entfaltet sich die doppelte Handlung, aus deren Verlauf wesentliche Details herausgegriffen werden sollen, um Mays Verschlüsselungstechnik zu zeigen (49).

Nachdem sich Kara ben Nemsi und Halef zu Fuß und unbewaffnet an die Verfolgung der Diebe begeben haben, entdecken sie als erstes die Spuren, die darauf hindeuten, daß ihre Pferde nicht nur gestohlen, sondern auch "geschlagen" bzw. "mit dem Knüppel bearbeitet" wurden; der Haupttäter büßte für die Tat durch einen "Bluterguß" "aus seiner Lunge"(SL III, 86), eine späte literarische Rache an Heinrich Keiter, dem Redakteur des "Deutschen Hausschatz", der es gewagt hatte, den "Krüger Bei"-Roman um ca. 440 Seiten zu kürzen und die Übergangsstellen zu "bearbeiten" (50). Kurz darauf taucht Nafar ben Schuri, der angebliche Scheik der "Dinarun", als "Retter" auf, während er in Wirklichkeit mit den Räubern unter einer Decke steckt: Mays Gegner erscheinen hier als räuberische Einheit, nur bemüht, hinter das "Geheimnis" seiner Pferde und Waffen zu kommen (=seines schriftstellerischen Erfolgs). Sie wollen die überragenden Fähigkeiten seiner Pferde/Gewehre (seiner Werke) ausbeuten und für ihre eigennützigen Zwecke, nämlich den Kampf gegen die "Dschamikun" (=die richtigen May-Leser) mißbrauchen. Ein Vertreter dieses May-Volks taucht auch alsbald, als Fakir verkleidet, auf (=Fehsenfelds Prospekte mit "empfehlenden Worten deutscher Bischöfe" (51). Während die Dschamikun zunächst vom Scheik als Räuber dargestellt werden (entsprechend den Vorwürfen um 1900 gegen Mays "Räuberromane" (52), die zum Verbrechen anstiften), warnt der vermeintliche Fakir zunächst ganz allgemein und rückt später die Perspektiven zurecht:


- 213 -

Sie [=die "Retter"] sind gar keine Dinarun, sondern Ausgestoßene [...] aus allen Stämmen [...]. Sie leben nur von Diebstahl, von Raub und ähnlichen Unternehmungen. (SL III, S.222)

Das ärmliche Dinarun-Lager zeigt, besonders dadurch, daß "die vorhandenen Pferde [ ... ] teils mittel-, teils auch minderwertiges Material" (literarisch gesehen) sind, wie dringend die Dinarun (=Katholiken) auf Kara ben Nemsis Ausrüstung (Manuskripte) angewiesen sind.

Der Fakir (Pedehr = Fehsenfeld), der sich grußlos zum Essen gesellt und dessen fromme Verkleidung von Schmutz strotzt (53), lenkt die Pläne der Dinarun, ohne daß sie es merken, zum "Thal des Sackes", "unserer 'Sackgasse' gleich" (SL III, 171): Kara ben Nemsis Bündnis mit den Dinarun mündet (literarisch) in einer "Sackgasse", aus der ihn der Rat des angeblichen Fakirs und sein eigener Sprung über den Abgrund (d.h. seine literarischen Fähigkeiten) retten (54). Nach einer ausdrücklichen Absage an das in bisherigen Reiseerzählungen unverzichtbare topographisch-beschreibende Element (SL 111, 182) wird das Spurenlesen zur Metapher des richtigen (literarischen) Verständnisses ("Der, welcher hier geritten ist, hat eine Schrift geschrieben, welche zu lesen ist, nämlich seine Spur." SL III, 183): während Nafar ben Schuri nur die Oberfläche versteht (hier sei ein "Pferd" gelaufen), entziffert Kara ben Nemsi die verborgenen "Geheimnisse". Die Spur stammt von einer "Stute", "welche wenigstens schon fünf- oder sechsmal geboren hat (die fünf Münchmeyer-Romane samt dem sechsten, angefangenen), und "infolge eines Fehltrittes lange Zeit fußkrank und unbrauchbar" war, weil sie an einer "Flechsendehnung" litt (=die von May behaupteten Verfälschungen seiner Kolportageromane von fremder Hand) (SL III, S.185 f.). Nafar ben Schuri, der Auskünfte über diese Stute des Ustad, des geheimnisvollen Oberhaupts der Dschamikun, verweigert, droht dann mit "Hunger" und "Durst" (materieller Not bei literarischen Experimenten): "Ihr werdet in unbekannter Gegend hilflos sein!" (SL III, 190). Diese Ankündigung erbost Halef (der hier die Gattung der Reise- oder Jugenderzählungen vertritt) so sehr, daß er eine Strafpredigt hält, die mit den Worten endet, daß dem "niedergeschmetterten Scheik der Dinarun [...] jetzt, in diesem Augenblicke, um nichts als nur um unsere Hilfe bange" sei (SL III, 191). Daß der Vorfall die Auseinandersetzungen mit Pustet um die Streichungen Heinrich Keiters widerspiegelt, ist deutlich; wieweit hier wörtliche Anspielungen vorliegen (auffällig ist v.a., daß die Worte "Hilfe/hilflos" so oft wiederholt werden) läßt sich nicht mehr im Detail klären, weil der Briefwechsel mit Pustet nur fragmentarisch erhalten ist und wesentliche Teile der Verhandlungen mündlich geführt wurden. Nafar ben Schuris schließlich erteilte Auskünfte über den "Ustad" der Dschamikun zitieren nicht nur einen Zwischentitel aus dem Kolportageroman "Der verlorene Sohn" ("Sklaven der Arbeit" = Dschamikun), sondern greifen auch das Selbstporträt Mays aus dem "Dankbaren Leser" auf (55):


- 214 -

Dankbarer Leser:
May "ist ein einfacher, arbeitsamer Landwirt, weiter nichts! [...] Seine Mühen wurden reich belohnt. Sein Besitz vergrößerte sich von Jahr zu Jahr." (Dankbarer Leser, 15)
SL III:
Die Dschamikun "wurden durch ihn [den Ustad] wohlhabend, viele sogar reich, haben sich aber aus freien Nomaden in unfreie Sklaven der Arbeit verwandelt. Sie züchten Vieh, sie bebauen Äcker, und sie besitzen Gärten [... "(SL III, 192)

Die Passage (nebenbei auch Anspielung auf Mays immer wieder bezeugte gärtnerische Ambitionen) wird gefolgt von dem wenig zu Wohlstand und Seßhaftigkeit passenden, leicht als unsinnig erkennbaren Vorwurf, die Dschamikun seien dennoch "Räuber", die fremde Herden stehlen (=Plagiate begehen), weil sie vom Propheten abgefallen seien, Aussagen, die deutlich auf Pater Ansgar Pöllmanns Vorwürfe anspielen, May habe "schon oft gezeigt, daß er auch sehr indifferent sein kann." (56).

Nach dieser ersten Information über den Ustad und die Dschamikun folgt Kara ben Nemsis Entdeckung, daß nicht nur Halef, sondern auch er an der Krise teilhat: er ist ebenfalls krank und will baden, um sein Befinden zu bessern. Der Ritt zum Weiher ist der erste literarische Wettstreit des Texts, eine Beschreibung von Mays Schreibprozeß vor der Orientreise: Halef auf 'Barkh' (der hier die Spemann-Erzählungen vertreten dürfte) siegt zwar, aber nur, weil er die Sporen anwendet, während Kara ben Nemsi sein Pferd Assil ben Rih (die "Hausschatz"-Erzählungen) zwar zunächst zu zügeln versucht, aber dann frei und selbständig laufen läßt (57).

Im Wasser entdecken beide, daß sie Typhus haben, eine

Bezeichnung für verschiedene schwere und unter heftigem Fieber verlaufende Krankheitszustände, bei welchen das Nervensystem in der schwersten Weise ergriffen zu sein und der Kranke in einem anhaltenden Zustand von Betäubung sich zu befinden pflegt (Nervenfieber) [...] Der Ansteckungsstoff ist in der Atmosphäre des Kranken enthalten. (58)

Nicht nur die in dieser Beschreibung erkennbaren psychischen Krisensymptome, sondern auch der ausdrückliche Hinweis auf die Pesterkrankung am Turm zu Babel im Orientroman deuten an, daß die Krankheit Metapher einer literarischen Schaffenskrise ist (SL III, 209).

Unmittelbar an das Bad anschließend folgt ein zweites Wettrennen, diesmal zwischen Kara ben Nemsi und Sallab, dem angeblichen Fakir (in Wirklichkeit der "Peder" = Fehsenfeld), der sichtlich "ein Pferd allererster Rasse" (SL III, 216) reitet. Hier nun wird die literarische Metaphorik unmißverständlich gezeichnet; beschrieb das vorhergehende Rennen zwischen Halef und Kara ben Nemsi die Konkurrenz verschiedener Gattungen (Jugend- vs. Reiseerzählungen) oder Entwicklungsstufen (frühe vs. Reiseerzählungen), so geht es nun eindeutig um den Verleger Fehsenfeld und seinen Umgang mit dem Werk seines Autors. Sallab gibt seiner Stute das 'Geheimnis', zeigt jedoch sogleich,


- 215 -

daß er dieser Reit-(Rezeptions)art nicht gewachsen ist, weshalb auch die Stute bald deutliche Schwächen zeigt:

Wahrscheinlich hatte man sie seit langem nicht mehr geübt, im Geheimnisse zu rennen [...], und darum wurde ihr jetzt die Lunge kurz und schwer. Dazu kam, daß der Reiter kein Mann für ein Pferd dieser Gattung war. [...]er saß jetzt während des Geheimnisses nicht anders als bei einem gewöhnlichen Galopp im Sattel. [...] Eine innere Fühlung zwischen ihm und dem Tiere gab es nicht [...] (SL III, 219)

Beschreibt diese Passage die Verständnis-Defizite Fehsenfelds, der die 'geheimnis'-vollen (=mehrschichtigen) Spätwerke genauso liest, als wären es Reiseerzählungen aus dem "Deutschen Hausschatz", so schildert der Anschluß - Assils Bewegung im Geheimnis - explizit den Übergang vom Schreibprozeß der früheren Erzählungen zur Symbolik (59):

Die Schnelligkeit, von der ich vorhin sprach, war nicht mehr da; an ihre Stelle war die Unbegreiflichkeit getreten. (SL III, 220)

Nun erkennen Kara ben Nemsi und Halef, mit wem sie es bei den Dinarun zu tun hatten: "Ausgestoßene aus allen Stämmen, die es in dieser Gegend giebt. [...] Sie leben nur von Diebstahl, von Raub und ähnlichen Unternehmungen." (SL III, 222). Sallabs Enthüllungen über Nafar ben Schuri spiegeln noch einmal Mays Beziehungen zum Katholizismus und stellen schließlich die Alternative, sich für die Dschamikun (echte May-Leser) oder für die Dinarun (=kath. Leserschaft) zu entscheiden (SL III, 234).

In der (literarischen) "Sackgasse" angekommen, setzen Kara ben Nemsi und Halef trotz der Warnungen Nafar ben Schuris mit ihren Pferden zum Sprung über den Abgrund an; während Halef mit dem Rappen Barkh nur mit Mühe festen Boden unter den Füßen gewinnt (Halef bricht dann auch gleich zusammen), geht Assil ben Rih "leicht, wie ein Gedanke über die Spalte hinüber" - der Übergang von der Reiseerzählung zum Spätwerk ist - zumindest bildlich - vollzogen (SL III, 255) .

Durch den Mund des Peder läßt May nach dieser metaphorischen Darstellung der eigenen Werkentwicklung noch einmal in einer durch Jamben hervorgehobenen Passage den Stolz über seine eigenen schriftstellerischen Fähigkeiten ("Da kamst du angesaust, so leicht, so glatt, so unbeschreiblich sicher! [...] Das war so ungewohnt, so fremd, so über mir" - SL III, 257) ebenso anklingen wie sein Programm, die Hemisphären und Kulturbereiche auszusöhnen:

Ich heiße dich, den Westen, hoch willkommen! Krank liegt der Osten hier zu unsern Füßen, in tiefer Ohnmacht, ganz wie Halefs Körper. (SL III, 258)


- 216 -

Der Zeitschriftenabdruck der Teilerzählung "Am Tode" endete mit der Beschreibung von Mays literarischer Situation nach dem Bruch mit den Verlagen Spemann und Pustet sowie mit der liturgisch überhöhten Ankunft bei den Dschamikun, zu denen ihn der Peder gebracht hatte:

Vor mir ein vollständig unbekanntes Terrain, mit Menschen, die mir fremd und dennoch Freunde waren. Hinter mir die durch unsere Entschlossenheit besiegte Tiefe, über welche die rufenden Stimmen der Massaban herüberklangen.[...] Mit diesen Leuten wollte ich nichts mehr zu tun haben [...] (SL 111,258)


- 217 -

3. Literarische Qualität und Textbearbeitung: die Varianten in den Manuskripten

Die Erzählstruktur von "Am Tode" ist durch eine relativ einfache Codierung gekennzeichnet: die oberflächlich durchaus konventionell verlaufende Abenteuerhandlung verarbeitet in einer zweiten, durch die Wortwahl oder durch ergänzende Hinweise markierten Ebene Elemente aus Mays schriftstellerischer Biographie. Daneben taucht das im "Pax"-Roman bereits zentral dargestellte Thema der "Spaltung des menschlichen Innern" (1) zwar im ersten Teil der Erzählung auf, tritt dann aber in der Fortführung weitgehend zurück. Wenn Halef feststellt, daß er "aus zwei ganz ähnlichen und doch unendlich verschiedenen Wesen" bestehe (SL III, 110), wird das romantische Doppelgänger-Motiv (2) aufgegriffen, spielt aber für den Handlungsverlauf nur eine geringe Rolle. Mit dem Neuansatz nach dem Ende des Zeitschriften-Teilabdrucks im "Rhein- und Moselboten" gewinnt der Text eine neue Tiefenstruktur: während die Abenteuerhandlung gegenüber "Am Tode" an Gewicht verliert, fügen sich nun neue Bedeutungselemente in mehreren Schichten übereinander zu einer symbolischen Gestaltung, deren "große Bilderrede" (Hans Wollschläger) zwar nicht im ganzen Werk konsequent durchgehalten wird, aber eine für May völlig neue Darstellungsintensität bezeichnet (an der sich im übrigen die Leser-Geister bis heute scheiden (3) ).

Die Handlung entfaltet sich auf mehreren Ebenen, die unlösbar miteinander verschränkt sind. Stärker als in "Et in terra pax" greift May hier wieder auf Strukturen der


- 218 -

Abenteuererzählung zurück; andererseits wird nun die Absage an die Weltläuferpose im Gespräch Kara ben Nemsis mit dem Ustad der Dschamikun radikal formuliert (SL IV, 1.Kapitel), so daß der Eindruck entsteht, Mays Schreibstrategie sei hier von verschiedenen, nicht ganz auf einen einheitlichen Nenner zu bringenden Überlegungen bestimmt.

Zum einen war wohl das Drängen Fehsenfelds, der nach dem Mißerfolg der "Himmelsgedanken" auf eine Fortführung der Reiseerzählungen im bisherigen Stil drängte(4), wobei er hier durchaus als Anwalt der hinter der Entwicklung ihres Autors zurückgebliebenen "May-Gemeinde" auftreten konnte, die Ursache für diesen Rückgriff, zum anderen aber benötigte May offenbar selbst angesichts der hohen psychischen und physischen Anspannung beim Schreiben der "Silberlöwen"-Fortsetzung Ruhepausen, in denen die Handlung wieder in gewohnten Bahnen funktionierte.

Besonders deutlich ist diese Entspannungsfunktion der Abenteuerepisoden im ersten Kapitel des vierten Bands. Hier erfolgt die große Auseinandersetzung mit der eigenen schriftstellerischen und lebensgeschichtlichen Vergangenheit; die eruptiven, teilweise lyrisch gestalteten Schübe, in denen der Konflikt "um die Wahrheit" (so ein Bildtitel Sascha Schneiders (5)) zu Tage tritt, werden immer wieder durch Ereignisse unterbrochen, die den Mustern von vor 1900 folgen und die Schmugglerhandlung der ersten beiden Bände aufgreifen (Entziffern von Geheimschriften, Ausbruch von Gefangenen, Schießerei etc.). Die enge Verflechtung dieser Passagen mit der literarischen Selbstvergewisserung soll


- 219 -

darüber hinaus den Anspruch unterstreichen, die Entwicklung des Werks vor und nach 1900 folge den gleichen Gesetzen, d.h. May habe schon immer 'symbolisch' geschrieben.

Allerdings spielen diese Abenteuer nun nicht mehr in einem geographisch bestimmten Raum, sondern in einer imaginären Szenerie, die May nach den Mustern verschiedener europäischer, v.a. oberitalienischer Landschaften gestaltete (6). Zudem zeichnen sie sich durch eine mehr oder weniger deutliche Verschlüsselung aus; insbesondere im zweiten Teil des IV.Bands mehren sich die literaturbezogenen Signale, vor allem bei der Charakterisierung der einzelnen Pferde und bei der Schilderung des abschließenden Wettrennens. Andererseits zeigen die Varianten sehr deutlich, daß May bemüht war, allzu eindeutige Anspielungen (z.B. auf Hermann Cardauns (7)) zurückzunehmen und damit das Geschehen auf eine allgemein-bedeutende Ebene, jenseits der aktuellen literaturpolitischen Kontroversen, zu verlagern.

Dazu dient auch die semantische Mehrfach-Codierung der Figuren; sie ist es nicht zuletzt, die bis heute den Interpreten Schwierigkeiten macht, weil sie eine restlose Auflösung der Verschlüsselung durch einfache Gleichsetzung ausschließt (8).

Neben die Abenteuer treten nun weitere Bezugsebenen. May greift zum einen immer wieder auf ein Motivrepertoire aus Märchen und Mythen zurück, das teilweise im Text ausdrücklich thematisiert wird (9) (z.B. SL IV, 77 ff.); zum anderen verarbeitet er Materialien aus der Philosophie- und Religionsgeschichte, wenn er etwa die Figur Ahriman Mirzas


- 220 -

(deren Name auf die altpersische Mythologie verweist) mit unverkennbaren Zügen Friedrich Nietzsches ausstattet (10) oder das "Hohe Haus" als symbolische Gestaltung der Religionsgeschichte der Menschheit (11) (und zugleich als Abbild psychischer Topographie) entwirft.

Diese beiden Ebenen, in zahlreichen Figuren und Gestaltungsdetails nachweisbar, werden letztlich durch autobiographische Materialien determiniert, die nicht nur verschiedene zurückliegende Lebens- und Erfahrungsstufen Mays repräsentieren (12) von der Kindheit (z.T. bis ins Vorgeburtliche ragend (13)) bis zur Schreib-Gegenwart, sondern auch die aktuellen literaturpolitischen und autobiographischen Auseinandersetzungen zur Entstehungszeit des Romans verschlüsselt widerspiegeln (14).

Die neue Qualität zeigt sich auch im Einsatz der sprachlichen Mittel. Neben die schon vor 1900 verwendeten Jambenpassagen treten nun Reimketten und teilweise hymnische Partien, die auf sehr eigenwillige Weise die abendländischen Dichtungstraditionen verarbeiten. Stärker als der auf weite Strecken bewußt nüchtern konzipierte "Pax"-Roman (15) zeigen die beiden letzten "Silberlöwen"-Bände eine überraschende Vielfalt der Schreibgesten und Darstellungsweisen.

Daß May selbst die neue Qualität seines Werks erkannte, bezeugen vielfache, z.T. sehr ausgedehnte Zeugnisse, indenen er über die ästhetischen Probleme seiner Arbeit reflektiert. Dies geschieht allerdings kaum in wissenschaftlich-analysierender Weise, sondern bildhaft, im Versuch,


- 221 -

durch Metaphern und Vergleiche den Gesetzen des eigenen "Lebens und Strebens" nahezukommen (16).

Im Roman selbst kulminieren diese Bemühungen im Bild vom "Roß der Himmelsphantasie" (SL IV, S.208 f.) (17), einem eigenwilligen Amalgam von Abenteuer-Versatzstücken der Reiseerzählungen, Elementen der antiken Pegasus-Tradition, biblischen Anklängen und eingefügten, mit der Metaphorik wie selbstverständlich verbundenen Abstrakta ("Des Laufes Eile"/ "in gedankenreichen Funkenschwärmen"). Hier bringt May das Neue am "Silberlöwen" auf einen knappen und prägnanten Nenner: Raum- und Zeitbegriffe sind aufgelöst ("der dunkle Schweif strich die Vergangenheiten"), neben Grundelemente, wie sie etwa aus einer Beschreibung des Bloody-Fox stammen könnten, treten seltsam-befremdende Metaphern, die immer wieder die literarische Produktion thematisieren:

Des Rosses düstre Mähne aber wehte, im Winde flatternd wie zerfetzte Strophen, schwarz auf des Mantels dämmerlichten Grund. Und jene wunderbare Kraft von oben, die aus den höchsten aller Sonnen stammt, sprang in gedankenreichen Funkenschwärmen vom wallenden Behang des Wunderpferdes, hell leuchtend, auf des Dichters Locken über und knisterte versprühend in das All. (SL IV, 209)

Die Untersuchung der Manuskripte zeigt, daß dieses neue Textniveau nicht mehr Ergebnis von Schreibvorgängen ist, wie sie vor 1900 an den Handschriften abzulesen waren, sondern daß mit dem Fortschreiten des Werks auch die Intensität der Textbearbeitung immer mehr zunimmt. Ihr wesentlichstes Mittel ist die Uberklebung zu tilgender Passagen durch Blätter mit neuem Text. Während sich im Manuskript "Am Tode" nur eine derartige Korrektur findet, weist das


- 222 -

anschließende Manuskript C bereits eine ansteigende Tendenz auf: nach einer Überklebung im 3.Kapitel enthält der Text des 4.Kapitels bereits 5 derartige Korrekturen und der des 5.Kapitels 11. Die beiden folgenden Manuskripte (D und E) zeigen zahlreiche Korrekturen, wobei nun auch die Detailkorrekturen eine ästhetische Funktion haben und nicht mehr - wie vor 1900 - nur dazu dienen, mechanisch Wiederholungen zu vermeiden.

Dabei muß mit einer gewissen Unschärfe bei der Rekonstruktion der Textgenese gerechnet werden: wie sich in einigen wenigen, nur mehr oder weniger zufällig nachzuweisenden Fällen erkennen läßt, ersetzte May von ihm verworfenen Text nicht nur durch neue Passagen auf aufgeklebten Blättern, sondern er schied auch Manuskriptblätter aus und setzte den Text jeweils auf einem neuen Blatt fort, so daß in der Handschrift die Existenz einer ursprünglichen Fassung bzw. die Korrektur nur in Ausnahmefällen sichtbar sind.

Für diesen Nachweis gibt es in den "Silberlöwen"-Manuskripten zwei Möglichkeiten: da May seine Manuskripte meist bereits vor dem Schreiben durchpaginierte (zumindest die Vorderseiten der Blätter), ist teilweise (etwa im "Basra"-Manuskript) aus einer Paginierung mit anders getönter Tinte oder aus Rasuren bei der/den Seitenzahl(en) zu erschließen, daß Seiten eingefügt oder ausgetauscht wurden. Daneben liefern in einigen Einzelfällen Blätter, die zwar ausgeschieden, aber dann, weil sie nur einseitig


- 223 -

beschrieben waren, zum Oberkleben benutzt wurden, eindeutige Hinweise darauf, daß auch, wenn keinerlei Korrektur in der Handschrift erkennbar ist, bereits eine Zweit- (oder sogar Dritt-) Fassung vorliegen kann.

Belege für Mays Gewohnheit, die Seiten vorzupaginieren, bieten neben dem Manuskript "In Basra" (vgl. die MS-Beschreibung im Anhang) auch die anderen "Silberlöwen"Handschriften: im Manuskript C ist C 389 neu paginiert; offenbar wurde hier die Fortsetzung der letzten beiden Zeilen von C 388 (SL III, 541, Z.10) ausgeschieden. Der überklebte Text dieser beiden Zeilen läßt erkennen, daß May hier ursprünglich einen anderen Handlungsfortgang plante, der aber offenbar sehr bald, im Verlauf des Blatts 389 f., aufgegeben wurde, so daß C 391 wieder regulär paginiert ist. Ursprünglich wollte May offenbar die Bluträcherhandlung wieder aufnehmen; C 388 bricht im überklebten Teil ab mit dem Satz: "Sie waren gekommen, vergossenes Blut zu rächen. Wer ists". Stattdessen folgen im endgültigen Text dann Pekalas Mahlzeit für Kara ben Nemsi und Tifls Gesang.

Im Manuskript E wurde das bereits mit einer Seitenzählung versehene Blatt E 377 f. von May zum Überkleben verwendet, so daß die Seitenzahl auf der Rückseite des aufgeklebten Blatts erkennbar ist ("377"); gleichzeitig ein Beleg dafür, daß May nur jeweils die ungeraden (Vorder-)Seiten bezifferte. Das letzte Blatt einer Formatgruppe diente hier zum Überkleben (SL IV, S.447 f.= E 366; auch E 587 - 599).

Belege für ausgeschiedene Textpartien auf der Rückseite aufgeklebter Blätter, die als Korrektur an der jeweiligen Manuskriptstelle, von der sie ursprünglich stammen, nicht erkennbar sind, finden sich im Manuskript E beispielsweise auf den Seiten E 10 (SL IV, 183), E 24 (SL IV, 194), E 44 (SL IV, 209), E 116 (SL IV, 261), E 216 (SL IV, 335) (Zur letzteren Korrektur vgl. unten).

Die wichtigen Hinweise auf die Textgenese und die Anhaltspunkte für die Rekonstruktion von Mays Arbeitsprozeß, die die soeben beschriebenen Varianten liefern, sind zwar wesentlich, aber eigentlich sekundär in der Aussage. Bedeutsamer sind die Informationen, die sich den Varianten zum "Silberlöwen" für die Interpretation des Texts und für die Einschätzung von Mays Schreibstrategie entnehmen lassen. Dabei lassen sich die Korrekturen auf zweifache Weise ordnen, zum einen nach ihrer Funktion im Schreibprozeß und


- 224 -

nach der Art der Änderung, zum anderen aber nach den hinter den jeweiligen Varianten stehenden Impulsen des Autors.

Nach äußeren Merkmalen, d.h. nach dem Korrekturvorgang, lassen sich mehrere Gruppen unterscheiden, die in ungleichem Ausmaß in den Manuskripten in Erscheinung treten:

1. Sofortkorrekturen, um Wiederholungen zu vermeiden, finden sich ebenso wie in den Manuskripten vor 1900 auch später; sie erfolgen in der Regel durch Streichung und Korrektur auf gleicher Zeile bzw. über der Streichung (in selteneren Fällen auch darunter).

Beispiele:

A 37 bemerken ] erkennen
<genau konnte ich es aus der Entfernung nicht erkennen>

B 14 = SL 111, 75,2:
Auch unsere, besonders meine Waffen fielen ihnen auf; das sahen wir ja, aber (es) (fiel) <-> sie gestatteten sich nicht <...>

B 45 = SL 111 94,4:
Einige meiner Leute sind vor (einigen) <> mehreren <- > Tagen von Basra heimgekehrt.

B 58 = SL 111, 102,10:
Ich möchte womöglich erfahren, wo sie die Nacht zubringen. (Erfa) <-> Gelingt uns das <... >

Diese Sofortkorrekturen sind zwar ästhetisch bedeutsam, erfolgen aber fast durchweg automatisch und ziehen in der Regel keine weiteren Korrekturen nach sich; nur das duplizierte Wort bzw. der wiederholte Ausdruck werden ersetzt.

2. Ersatzlose Streichung größerer Partien (mehrerer Zeilen), ein relativ seltenes Verfahren, weil May in der Regel dazu neigt, das Blatt mit der jeweiligen Textpartie auszuscheiden und auf einem neuen Blatt neu anzusetzen.


- 225 -

Beispiele:

A 100 = SL 111, 58,9: Streichung einer Passage, die sehr wahrscheinlich auf einer von May ausgeschiedenen Seite eine Fortsetzung hatte; in ihr gehen Kara ben Nemsi und Halef "eine halbe Stunde vor Abgang des Dampfers an Bord", um offenbar nach Abu Schehr zu fahren.

E 446 = SL IV, S09: Der Hinweis auf die Teilnahme Kara ben Halefs an der Beratung der Dschamikun wird getilgt, weil Kara überhaupt nicht anwesend ist; er befindet sich noch mit geheimer Botschaft beim Schahin-Schah und kehrt erst einige Seiten später (SL IV, 517 ff.) zurück.

3. Überklebungen, die häufigste Korrekturform bei den "Silberlöwen"-Manuskripten. Dabei lassen sich mehrere Formen im einzelnen unterscheiden:

a. neuer Text auf aufgeklebtem Blatt (mit noch lesbarer/ unlesbarer Erstfassung): dafür bieten die Manuskripte D und E zahlreiche Beispiele.

b. Mehrfachüberklebungen

Beispiel:

E 24 = S l 194 (=Schluß des ersten Kapitels): hier wurde die ursprüngliche Fassung überklebt (von ihr ist nur die Schlußzeile noch lesbar), dann wurde auch die Korrektur noch einmal überklebt, und erst auf dieser zweiten Uberklebung steht dann der endgültige Text des Kapitelschlusses. Zusätzlich enthält auch noch das zweite Uberklebeblatt auf der Rückseite Text; es handelt sich um eine Erstfassung der Seite E 17, deren Existenz aus dem Handschriftenbefund bei E 17 nicht zu erkennen ist.

c. ausgeschiedene Fortsetzungsseiten: z.T. auf den Rückseiten der aufgeklebten Blätter noch nachweisbar, vgl. das soeben angeführte Beispiel E 24/E 17(ein weiteres Beispiel bietet etwa E 44).


- 226 -

4. Spätere Korrekturen nach Abschluß des (Teil-)Manuskripts, entweder von fremder Hand (vgl. die Fremdworttilgungen bei "In Basra") oder von Mays Hand (vgl. die vereinzelten Bleistiftkorrekturen in Manuskript E, z.B. E 322, E 328); derartige Korrekturen sind nur für Manuskriptteile nachweisbar, in keinem Fall dagegen für eine ganze Handschrift.

5. Abweichungen zwischen Manuskript und Drucktext, d.h. Korrekturen, die noch während der Drucklegung vorgenommen wurden.

Beispiele:

C 379 = SL III, 534 Kapitelüberschrift im Manuskript "Ein At jaryschy." (= "Ein Pferderennen")

E 530 = SL IV, 569, 14 ff.: der im Manuskript sehr deutliche Hinweis auf die Identität des Henkers mit Hermann Cardauns ist im Drucktext stark abgeschwächt.

Außer nach diesen formalen Gesichtspunkten lassen sich die verschiedenen Korrekturen in den "Silberlöwen"-Manuskripten auch noch nach den Motiven Mays gruppieren (18):

1. Uberklebung aus (kalli)graphischen Gründen: war eine Handschriftenseite nach mehreren Tintenkorrekturen unübersichtlich bzw. schwer lesbar geworden, wurde sie überklebt und der Text wurde neu geschrieben.

2. Ästhetische Korrektur: Hier bleibt der Inhalt weitgehend gleich, wird aber sprachlich stimmiger gefaßt (deutlichere Semantik, stimmigere Metaphorik, metrische Präzision usw.).

Beispiele:

C 467 = SL III, 596: Hier bewirken minimale Änderungen eine ästhetische Verbesserung des hymnisch gehaltenen Märchen-Schlusses.


- 227 -

E 216 - SL IV 33S: diese Korrektur ist vor allem deshalb interessant, weil sie auf einem Blatt ausgeführt wurde, auf dem älterer Text der Seite E 199 (= SL IV, 322, Z.11-4 v.u.) steht. Dieser ursprüngliche Text weist gegenüber der endgültigen Fassung nur geringfügige Änderungen auf, die aber eine neue Qualität zur Folge haben:

(Ursprünglicher Text) (Neuer Text)
zum Sturz zum jähen Sturz
hölzernen, unverschlossenen Thür hölzernen, unverschlossenen und unverriegelten Thür
Das sah ganz so aus, als ob man durch sie in ein weiteres Gemach oder Gewölbe trete Das sah so unschuldig aus, ganz genau so, als ob sie in ein weiteres Gemach oder Gewölbe führe
Truge Betruge

Dienen die ersten beiden Änderungen der Präzisierung, so verändern die beiden folgenden durch winzige Nuancenverschiebungen die Perspektive. Das Absichtsvolle des Betrugs, die bewußte Maskierung der Tür tritt nun deutlicher hervor, nicht nur durch das akzentuierende "unschuldig", sondern auch durch Änderung von "Trug" zum juristischen Begriff "Betrug". An die Stelle der Handlung des (argwöhnenden) Betrachters tritt nun der Eindruck, den die Tür vermitteln soll ("führe").

E 617 = SL IV, 630: Hier streicht May einen Satz, um ihn anschließend weit -ausführlicher paraphrasiert darzustellen:

(Ursprünglicher Text) (Neuer Text)
Und da- da--tat sich vor unsern Augen da drüben ein furchtbarer Rachen auf, (spie die verborgenen Wasser hoch in die Lüfte) <-> und begann, <...> und da - da - - tat sich vor unsern Augen da drüben ein furchtbarer Rachen auf, und begann, die Ruinen mitsamt den herabgestürzten Höhenmassen zu verschlingen! Und während sie in diesem heißhungrigen, gefräßigen Schlund verschwanden, schoß ihm das emporgetriebene Wasser der Tiefe über die Lefzen und wurde zu gleicher Zeit mit einer solchen Gewalt in den See gepreßt, daß es sich wie ein beutegieriger, springender Leviathan über seine Fläche stürzte und erst weit draußen verendend niedersank.


- 228 -

3. Handlungsneuansatz: May verwirft einen Handlungsansatz und ersetzt ihn entweder vollständig oder läßt ihn erst später zur Geltung kommen.

Beispiele:

E 242 = SL IV 354, 8 v.u.: Auch hier wurde sehr wahrscheinlich eine Textfortsetzung auf E (243) ausgeschieden; infolgedessen ist nicht mit letzter Sicherheit zu klären, welchen Handlungsfortgang May plante. Zu erkennen ist aber immerhin, daß das Gespräch unterbrochen werden sollte, wobei vermutet werden kann, daß May ursprünglich die Störung schon hier eintreten lassen wollte, die er dann erst nach einer längeren Fortsetzung des Gesprächs zwischen Kara ben Nemsi und Schakara eintreten läßt, nämlich das Erscheinen Kara ben Halefs. (SL IV 356, 10 v.u.).

Besonders bedeutsam ist die Änderung E 144 = SL 1V 282:

Auch hier bricht der Text unter der Überklebung am Ende der Seite ab, so daß eine Fortsetzung von unbestimmter Länge auf ausgeschiedenen Seiten angenommen werden kann. Hier wird ein Handlungsansatz von zentraler Bedeutung durch die Überklebung zurückgenommen: offenbar sollte Tifl (die Verkörperung Mays als junger Schriftsteller) zunächst den Kiss-y-Darr, das Pferd "Schundroman", nicht nur besitzen (über die Urheberrechte daran verfügen), sondern es auch reiten (in den literarischen Wettbewerb einbringen). Dabei zeigen sich einige Unterschiede zur späteren Konzeption, wobei die letztere weitaus präziser auf den literarischen Bereich beziehbar ist. Nach der Aussage des Ustad (SL IV, 462) war das Pferd ("Kiss" = Roman; "y-Darr" = "Schund", diese Bezeichnung wurde erst später hinzugefügt) ein "Hellbrauner von besten Eigenschaften", der vom Scheik der "Kutubi-Kurden" dem Ustad abgeschwindelt wurde; laut einer Fußnote in "Am Jenseits" bedeutet das Wort "Kutub" soviel wie "Bücher" (Die Fehsenfeld-Ausgabe, 73, setzt fehlerhaft durchweg "Kultub", während das Manuskript eindeutig "Kutub" hat!). Tifls Pferd ist allerdings ein "Schwarzer", wenn auch mit ähnlichen Eigenschaften wie das spätere Pferd des Ustad:

(Tifl) (Ustad, S.462)
schon ziemlich alt, schlecht gehalten und daher verritten ein Schwarzer. über zwanzig Jahre alt, abgetrieben, entstellt, verletzt, verhunzt, besudelt, beinahe zur Karikatur gemacht <...>

Die Angaben der überklebten Stelle weisen auf einige Besonderheiten hin: offenbar wollte May den "Kiss-y-Darr" evt. auf der Seite der Dschamikun laufen lassen, um seine Qualität zu beweisen. Auch die Farbangabe weist darauf hin, daß May seine Münchmeyer-Romane zunächst durchaus innerhalb seiner anderen Werke führen wollte; als Rappe wäre das Pferd in die Nähe von Assil ben Rih (wohl die Reiseer-


- 229 -

zählungen) und des Glanzrappens Syrr (Repräsentant des Spätwerks) gerückt, während ein "Hellbrauner" doch einige kritische Distanz des Autors May anzeigt. Im ursprünglichen Plan ging der Rappe Kiss-y-Darr offenbar auch nicht durch fremde Hände, die ihn verderben, sondern bleibt im Bereich der Dschamikun, so daß May - durch die Ich-Figuration Tifl - weit stärker als in endgültigen Text die Verantwortung für den Zustand des Pferds (der Münchmeyer-Romane) übernimmt.

4. Abschwächung scharfer Aussagen oder allzu unverschlüsselter Passagen:

Beispiele:

E 102 = SL IV, 251: Hier schwächt May eine sich anbahnende Auseinandersetzung mit dem Pedehr/Fehsenfeld stark ab; sie mündete in eine Revolte des Pedehr ("Du hast bestimmt, Du, Du! Und ich habe wohl nichts zu bestimmen?"), die im endgültigen Text nicht mehr zu finden ist.

E 632 = SL IV, 639: May bricht hier nach wenigen Zeilen einen Handlungsansatz ab, der auf eine "Kriegskasse" der May-Gegner, d.h. letztlich auf den Vorwurf ihrer Bestechlichkeit hinausläuft.

Die Entwicklung, die sich in den beiden letzten Teilmanuskripten des "Silberlöwen" abzeichnet, nämlich eine immer intensivere Durcharbeitung der Texte, setzt May in seinen folgenden Werken fort. An die Überarbeitung des "Pax"-Romans, die bereits oben beschrieben wurde, schließt sich die langandauernde Bemühung um das Drama "Babel und Bibel", eine Mühe, die dann vor allem dem Roman "Der Mir von Dschinnistan" zugute kam. Auch dieses Werk überarbeitete May sehr gründlich, bevor er es in die Fehsenfeld-Reihe aufnahm (18). Allerdings wurde bereits die Arbeit an "Ardistan und Dschinnistan" durch die Kritik und die z.T. eigenmächtigen redaktionellen Eingriffe des Verlags Pustet stark beeinträchtigt (19); gegen sie konnte May sich noch mit Vehemenz und literarischen Argumenten zur Wehr setzen, während ihn der "Sauhieb" der Hausdurchsuchung im November 1907 (20) wehrlos und verwirrt zurückläßt. Zwar wird er später


- 230 -

Ende Januar 1909, "außer Verfolgung" gesetzt, aber die tiefe Verstörung durch die endlosen juristischen Querelen hinterläßt nun auch im Werk ihre Spuren. "Winnetou IV", als die Vollendung der amerikanischen Reiseerzählungen angekündigt, erweist sich nicht nur inhaltlich als der "zitterige Swan-Song eines Greises" (21), sondern zeigt auch im Manuskript-Befund die Regression unübersehbar an. Der Roman entsteht wie die Werke vor 1900, und die in Interpretationen bereits mehrfach festgestellten Schwächen in der Komposition und Durcharbeitung des Werks finden ihre Entsprechung in der fast gänzlich korrekturlosen Niederschrift des Texts (22).


- 284 -

Anmerkungen zu: VI. Im Reiche des silbernen Löwen, Band III/IV

1 "Reichspost", Wien, 8.Jg.(1901), Nr.113, 18.5.1901, S.9; zit. nach dem Neudruck der "Reichspost"-Artikel bei Vinzenz, JbKMG 1982, 213-218 (Zitat 217).

2 DH, XXIV.Jg (1897/98), Nr.49.

3 Ebd., XXV.Jg.(1898/99), Nr.13, Nr.14 (Dez.1898),-Nr.49 (Sept.1899).

4 Neudruck der Texte wie Anm.l.

5 Brief an Fehsenfeld, 27.12.1901.

6 Die folgende Darbietung der Entstehungsgeschichte von "Am Tode" folgt größtenteils Hans Wollschlägers Darstellung (Wollschläger, JbKMG 1979, 119-130).

7 Wollschläger, JbKMG 1979, 125.

8 Ebd. - Beiläufig ist hier darauf hinzuweisen, daß bereits im "Basra"-Manuskript eine erste, offenbar nicht von May stammende Textverwitterung nachweisbar ist: mit Blaustift wurden von fremder Hand, mutmaßlich durch die Druckerei Krais, Fremdwörter eingedeutscht und in dieser veränderten Form auch in die Buchausgabe übernommen.

9 Brief an Krais, 4.4.1902; zit. nach F-R KMV "SL III" (XXVIII), N 4f.

10 Vgl. dazu Lowsky, JbKMG 1980, 78-96.

11 DL, 9 ff.

12 Ebd., 1S.

13 Der ursprüngliche Titel verweist auf Mays Absicht, dieses Kapitel in Farsistan, der persischen Provinz mit der Hauptstadt Schiraz, spielen zu lassen (vgl. die Karte im Anhang).

14 Die Struktur der Handlung folgt zu Beginn (Beschreibung Basras) der Marienkalendergeschichte "Blutrache", während das Wiedersehen mit Lindsay - mit zahlreichen wörtlichen Übereinstimmungen - dem ersten Auftreten dieser Figur in "Giölgeda padishanün" nachgebildet ist (Wüste, 318 f.).

15 Lindsay erweist sich damit - wenn auch noch wenig konturiert - als Präfiguration des englischen Lords Raffley in "Friede".

16 Daß Mays Zitat die imperialistische Mentalität sehr exakt wiedergibt, zeigt das Tagebuch der Baronin Spitzemberg (1843-1914). Sie notierte 1901 die Erfahrungen ihres Neffen Claus von Below-Saleske, der während der Boxerwirren 1900 und der China-Expedition der europäischen Mächte Sekretär der deutschen Gesandtschaft in Peking war: "Empört war Claus über den maß-


- 285 -

losen Dünkel der deutschen Offiziere, der jeder Beschreibung spottete und wieder ein betrübendes Zeugnis ablegte von der Borniertheit und kosmopolitischen Unbildung unserer Landsleute. [...] Aufmerksam gemacht, daß ihn ein japanischer Offizier grüße, sagte [zu] Claus ein deutscher Oberst: 'Ach was, solche Affen werde ich doch nicht grüßen!'" (Spitzemberg, 1965, 200 f.).

17 Die Broschüre stellte May im Herbst 1901 zusammen; sie war Ende 1901 offenbar noch im Druck, da May in einem Brief an Fehsenfeld vom 27.12.1901 noch Vorschläge für die Umschlaggestaltung macht. Sie erschien anonym, wobei May auch Fehsenfeld gegenüber zunächst seine Verfasserschaft nicht preisgab. Die Fertigstellung und Herausgabe zeigt alle Züge eines literarischen Rollenspiels nicht nur durch die Anonymität, sondern auch durch den Verschwörungscharakter, den May dem Ganzen zu geben suchte: "Sprechen Sie mit keinem Menschen ein Wort über die Broschüre, bevor sie ausgegeben ist. Zeigen Sie Niemandem einen Correcturbogen! [...] Also Schweigsamkeit und Vorsicht! [...] Sie muß mit einem Schlage heraus, wenn es möglich wäre, alle 100.000 an einem Tage! Warten Sie ja nicht auf die Bestellung, sondern senden Sie unbestellt [ ... ] Dieser Hieb muß die Gegner vollständig ahnungslos treffen, sonst ist das Geld umsonst hinausgegeben! Also, ja verschwiegen sein!" (Brief an Fehsenfeld, 29.12.1901).

18 Zu Cardauns' Vortrag vgl. Wollschläger, JbKMG 1979, 123; zahlreiche Materialien bei Kosciuszko, 1985.

19 Wollschläger, ebd. - Mays Aufenthalt und Absichten in Düsseldorf bezeugt auch ein bisher unveröffentlichter Brief an Krais vom 14.1.1902 (UB Freiburg, Nachlaß Konrad Guenther, ohne Signatur); er ist in Regestenform wiedergegeben in "Karl May in Freiburg" (inform der KMG, Nr.21/22 (1977), 14.

20 Vgl. den Brief an Krais (wie Anm.19), wo sich May über Fehsenfeld ärgert; dieser habe seine (Mays) "in Leipzig in der Betrunkenheit maltraitirte Ehre" durch die kostenlose Herausgabe der Broschüre "wenigstens einigermaßen wieder herzustellen." Offenbar hatte Fehsenfeld bei der Buchhändlermesse im Herbst 1901 im Kollegenkreis über seinen Autor geklagt, dem diese Äußerung wiederum, "wenn auch indirect", zu Ohren gebracht wurde.

21 So Cardauns in seinem ersten Dortmunder Vortrag nach dem Bericht der "Tremonia", Dortmund, 8.11.1901 (zit. nach dem Faksimile bei Kosciuszko, 198S, 82).

22 Münchner Zeitung, 4.12.1901 (zit.nach Kosciuszko, 1985, 94).

23 Ebd.

24 Vgl. Mays Offenen Brief "An den Dresdner Anzeiger" (Text in JbKMG 1972/73, 124-143; Materialien bei Kosciuszko, 1985, 120-144).


- 286 -

25 Im Streit mit Hermann Cardauns ließ May mehrfach Flugblätter drucken und verbreitete sie über befreundete Redakteure oder über ihm wohlgesonnene Privatpersonen; vgl. Bartsch, JbKMG 1979, 276-321 (mit dem Text der Flugblätter von 1905 und 1907).

26 Zu den Prozessen Mays nach 1900 sind in den letzten Jahren zwar zahlreiche Quellenpublikationen erschienen, aber eine zusammenfassende Darstellung steht noch aus (zu Mays Berliner Prozessen und seiner Beziehung zu Maximilian Harden vgl. Klußmeier, JbKMG 1977, 103-113; zu verschiedenen Prozessen der letzten Lebensjahre vgl. Klußmeier, JbKMG 1980, 137-174, JbKMG 1981, 262-299).

27 Mittermayer, 1962, 5S7; zit. nach Roxin, JbKMG 1974, 69, Anm.98.

28 Fricke, 1984, 136.

29 Es handelte sich um die Erzählungen "Sonnenscheinchen" und "Das Geldmännle", demonstrativ von May an den Anfang und den Schluß der Ausgabe gestellt (vgl. Bartsch, Vorwort zum Reprint, Olms 1977, XI). Zu den beiden Erzählungen vgl. die Interpretationen von Vollmer ("Sonnenscheinchen"), JbKMG 1985, 160-181; Lorenz ("Geldmännle"), ebd., 182-217.

30 So May in zahlreichen Briefen der neunziger Jahre; vgl. die Zitate bei Roxin, JbKMG 1974, 20 ff.

31 May behauptete stets, die Rechte der Münchmeyer-Romane nur für eine Erstauflage von 20.000 Exemplaren vergeben zu haben; hätte er seine Finanznöte als Grund, sich auf die Kolportage einzulassen, zugegeben, hätte das Argument der Gegenseite, May habe die Rechte vollständig und bedingungslos abgetreten, stark an Wahrscheinlichkeit gewonnen. Vgl. dazu Roxin, Einführung KMG-R "TodesKaravane".

32 Den Beginn des Manuskripts zum letzten, bald von May abgebrochenen Münchmeyer-Roman ("Dalilah"), erhielt May zwar von Adalbert Fischer zurück, vernichtete aber dieses einzige erhaltene Manuskript entweder selbst oder Klara May vernichtete es nach 1912 . Jedenfalls darf die Tatsache, daß es in den prozessualen Auseinandersetzungen weder von May noch von Adalbert Fischer verwendet wurde, wohl dahingehend gedeutet werden, daß es für keine der beiden Positionen als Beweis geeignet war, weder dafür, daß Mays Manuskripte Unsittliches in größeren Quantitäten enthielten, noch dafür, daß sie absolut sittenrein waren, wie May behauptete. Vgl. die Darstellung bei Wollschläger, 1976, 192, Anm.116.

33 Vgl. die Korrespondenz Zieger-Kürschner, JbKMG 1983, 146-196.

34 Brief an Fehsenfeld, 10.9.1900; Faksimile in JbKMG 1984, 167-170(Zitat 167).


- 287 -

35 L & Str, 151 f.; zum Begriff "Eigentliches Werk" vgl. Wollschläger, JbKMG 1977, 64 f., 78 f.

36 Aphorismen über Karl May. (Entwurf Karl Mays, KMA). In: JbKMG 1983, 56-68 (Zitat 57).

37 Von May verfaßte Ankündigung zu "Ardistan und Dschinnistan"; Faks. in JbKMG 1977, 66.

38 Aphorismen über Karl May (wie Anm.36), S6.

39 Zu den verschiedenen Richtungen, aus denen May angegriffen wurde, vgl. Plaul, JbKMG 1978, 174-255.

40 Brief an Fehsenfeld, 29.12.1901.

41 Lessing, Brief an Karl Lessing, Okt.1778 (betrifft den Plan des "Nathan") .

42 Die folgende Darstellung weitgehend nach Wollschläger, JbKMG 1979, 124, 134/Anm.88.

43 An Dederle hatte May von der Orientreise eine abenteuerliche Postkartenserie geschickt, die dieser umgehend veröffentlichte. In: Tremonia, Dortmund, 8.11.1899. Briefe Mays an Dederle in JbKMG 1971, 169, 171, 182, 186, 188, 190 f., 194, 202.

44 Vgl. Wollschläger, JbKMG 1979, 124 f.

45 Ebd., 12S.

46 SL III, 248, weist May in einer Fußnote ausdrücklich auf den "Schut" hin.

47 Den Text veröffentlichte Max Finke unter dem nicht von May stammenden Titel "Der Zauberteppich" im KMJb 1923, 12-16. Vgl. den Briefwechsel Zieger-Kürschner, JbKMG 1983, 165 f.

48 Die naheliegende Vermutung, May habe schon vor 1900 bewußt konkrete Verschlüsselungen vorgenommen, ließ sich bisher noch nicht schlüssig belegen. Genannt wurde dafür beispielsweise der 'Reis Effendina' in "Im Lande des Mahdi"; diese Figur spiegle Auseinandersetzungen Mays mit Joseph Kürschner. Allerdings läßt sich diese Theorie nach den in den letzten Jahren gewonnenen Erkenntnissen über Mays Verhältnis zu Kürschner nicht aufrechterhalten (vgl. Bartsch, JbKMG 1972/73, 94 f.).

49 Zu Mays Symbolik in den folgenden "Silberlöwen"-Teilen grundlegend Wollschläger, JbKMG 1979, 99-119.

50 Keiter starb am 30.8.1898 "nach jahrelanger Krankheit an Lungentuberkulose"(Vinzenz, JbKMG 1982, 219).

51 Als vierseitiger Prospekt (in: Kosciuszko 1985, 69-71) und als Annonce verbreitet (letztere in KM-Bildband, 122, Abb.226).


- 288 -

52 Immer wieder wurde gegen May der Vorwurf erhoben, die Lektüre seiner Werke stifte Jugendliche zu kriminellen Handlungen an. Vgl. dazu Plauls Anmerkungen zu L & Str, 412* f.(Anm.216), 414* (Anm.220). Zu dem 'Freiburger Fall', bei dem zwei Gymnasiasten eine ihnen zur Last gelegte Brandstiftung in ihrer Schule mit dem Hinweis auf ihre May-Lektüre rechtfertigten, nahm May selbst nicht nur in einem ausführlichen Brief an Fehsenfeld (25.7.1901), sondern auch im "Dankbaren Leser" (S.60) Stellung. Der Titel dieser Broschüre greift mit "Karl May als Erzieher" den Untertitel auf, den die "Frankfurter Zeitung" ihrem Bericht über den Freiburger Prozeß gab: "Gymnasiasten auf dem 'Kriegspfad' (Karl May als Erzieher)"(zit.nach Plaul, L & Str, 415*(Anm.220)).

53 Für diese Maskierung durch Schmutz gibt es zwei Deutungsmöglichkeiten: entweder bezieht sich May hier auf die seiner Ansicht nach ästhetisch inadäquate "Einkleidung' seiner Werke durch die Titelbilder der frühen Fehsenfeld-Bände (vgl. oben S.83) oder er beschreibt den Peder aus der Perspektive der Massaban, der May-Gegner, die ja mit dem Autor auch den Verleger als "Schmutz und Schund"-belastet einstufen.

54 Umschrieben werden damit sowohl Mays Kontakt zu Fehsenfeld, der die Lösung von Spemann und Pustet ermöglicht, wie auch seine eigene literarische Entwicklung zur Hochliteratur ("Sprung über den Abgrund").

55 Die "Briefe" im Anhang zu "Karl May als Erzieher" enthalten zahlreiche Belege dafür, daß Mays "Werke zur ernstlichen Arbeit, zum Lernen" ermuntern: "Seitdem ich Sie gelesen habe, arbeite ich mit viel größerer Liebe..." (DL, 127. - Ähnlich die Briefe Nr.12,18, 29 f., 4S, 48 ff. u.ö.).

56 P.Ansgar Pöllmann: Kreuz- und Querzüge durch die neuere katholische Poesie. In: Historisch-politische Blätter, Jg.127 (1901), H.11 (zit. nach dem Faks. bei Kosciuszko 1985, 85).

57 Die Passage SL III, 201 f. (das Wettreiten) weist bereits mit einigen sprachlichen Zügen voraus auf das spätere Bild vom "Roß der Himmelsphantasie" (SL IV, 208 f.).

58 Meyers Konversations-Lexikon. 4.Aufl. Bd.15. Leipzig: Bibliographisches Institut 1889, 955 f.

59 Der Peder schlägt sein Pferd im 'Geheimnis', d.h. er versucht es zu "bearbeiten", den Autor zu Änderungen zu bewegen (SL III, 220).


- 289 -

Anmerkungen zu: 3. Literarische Qualität und Textbearbeitung

1 L & Str. 177; vgl. Wollschläger, JbKMG 1972/73.

2 Vgl. Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur. Stuttgart: Kröner 1980, 100 ff. ("Doppelgänger").

3 Ernst Bloch lehnte das Spätwerk ab, während Arno Schmidt es für den einzigen Teil von Mays Werk hielt, der literarisch überhaupt zählt; die Debatte ist noch nicht zu Ende, wie die Auseinandersetzungen um die Gewichtungen im Karl-May-Handbuch gezeigt haben.

4 So schlug Fehsenfeld Anfang 1901 vor, die "Rose von Kairwan", die beim Verlag Wehberg 1894 erschienen war, in die "Gesammelten Reiseerzählungen" zu übernehmen, was May aus ästhetischen Gründen ablehnte:

Wenn wir die "Rose von Kairwan" bringen wollen, so muß sie erst beschnitten und oculirt werden, und dazu ist jetzt in diesem kalten Winter nicht die rechte Zeit." (Brief an Fehsenfeld, 16.1.1901)

5 Vgl. Hatzig, 1967, 36 f.

6 Vgl. Wollschläger, JbKMG 1979, 126; Hatzig, MKMG 34(1977).

7 Z.B. Im Manuskript E 530 = SL IV 569.

8 Vgl. Hans Wollschlägers Modell der Symbolik im "Silberlöwen": JbKMG 1979, 106-119.

9 Die zunehmende Thematisierung des Mythos erfolgt v.a. im IV. Band, parallel zur intensivierten Durcharbeitung des Texts.

10 Wie Anm. 8, 108 f.

11 Ebd., 110 f.

12 Tifl, das Kind: der May der frühen Erzählungen (und z.T. der Kolportagezeit); Kara ben nemsi: der May der Reiseerzählungen; der Ustad: der May des Spätwerks.

13 Wie Anm. 8.

14 Die von May zugrundegelegten Urbilder sind bisher nur zum Teil entschlüsselt, wobei man mit allzu schnellen Gleichsetzungen sehr vorsichtig sein muß, da May seine Figuren aus mehreren Komponenten zusammensetzte.

15 Anders die spätere Umarbeitung zu "Friede", in der stärker mythische Dimensionen einbezogen werden.


- 290 -

16 Am 31.12.1902 schrieb May für einen unbekannten Adressaten einen dreißigseitigen Briefentwurf, der im KMA aufbewahrt wird und bisher nicht veröffentlicht wurde. Hier versucht er, seinen Schreibprozeß durch den Vergleich mit der Arbeit eines Malers zu verdeutlichen, der anders wahrnimmt als die anderen, indem er nicht auf den äußeren Schein, sondern auf das Wesen der darzustellenden Dinge achtet. Seine ersten Skizzen sind "Vorübungen für Späteres, für die "Zeit der Reife"; infolge dieser Skizzenhaftigkeit seines Werks "mangelt es bei ihm an der Vollendung", was dazu führt, daß ihn die andern ächten: "Für geistge Jungens mag er Maler sein; wir aber streichen ihn aus unsern Listen. Er werde ausgemerzt!" Auch er, May, warte wie der Maler: "Was ich beabsichtige, hat zu krystallisieren." - Zu nennen sind in diesem Zusammenhang auch die "Briefe über Kunst" (1906/07) (vgl.D.Sudhoff im KMHb, 582-584) sowie eine Reihe weiterer autobiographischer und werkerklärender Aufzeichnungen (vgl. KMHb, 552 ff.)

17 Zum "Roß der Himmelsphantasie" und zu den Varianten dieses Texts sowie zur Variantensituation des "Silberlöwen" allgemein vgl. auch U.Schmid, in JbKMG 1988, S.66-82.

18 Vgl. die Variantenzusammenstellung von H.Hatzig, MKMG 30(1976), 23-32, sowie die Textgeschichte von "Ardistan und Dschinnistan", die E.Bartsch im JbKMG 1977, 81-102, bietet.

19 Vgl. die Briefe Mays an den Verlag Pustet, in JbKMG 1985, 15-62, mit einer Einführung von H.Wollschläger.

20 Wollschläger, 1976, 147 (Der Ausdruck stammt von einem Schriftsatz Mays an den Untersuchungsrichter Larrass).

21 Arno Schmidt, zit.nach Wollschläger, 1976, 171.

22 Vgl. Günter Scholdt, JbKMG 1985, 102-151.


Karl Mays Werk 1895-1905

Übersicht Sekundärliteratur

Titelseite Karl-May-Gesellschaft

Impressum Datenschutz