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Ein späterfüllter Knabentraum

Besuch in der Villa Shatterhand

Von Erich Heinemann

Sagen Sie Ihm, daß er für die Träume
seiner Jugend soll Achtung tragen,
wenn er Mann sein wird ...

Friedrich von Schiller, Don Carlos

I

Du warst ein Knabe von vierzehn oder fünfzehn, als du in einem Karl-May-Band die Fotografie zu sehen bekamst, die dieses Haus zeigte. Es unterschied sich kaum von anderen Villen aus der wilhelminischen Zeit. Die beiden Geschosse bedeckte, in sanfter Schräge, ein Schieferdach, aus dem schmale Erkerstübchen hervortraten. Hell und freundlich die Fassade, glatt verputzt, an den Fenstern schlichter Stuck, neo-klassizistisch. Nichts Auffälliges, weiß Gott. Höchstens die Inschrift über dem linken Fenster im Obergeschoß. In steifen, goldglänzenden Lettern stand da zu lesen: Villa Shatterhand. Der Hausherr hatte den Namen seiner wichtigsten Romanfigur dort anbringen lassen, mit der er sich, etwa wie Chamisso mit seinem Peter Schlemihl, identifizierte.

Dieses an sich unbedeutende Haus, in seiner bedächtigen Kleinbürgerlichkeit, mit seinem gepflegten Garten und seinem kunstvollen schmiedeeisernen Gartentor, es faszinierte dich auf den ersten Blick. Es trat heraus aus den Dimensionen der Fotografie, wurde lebendig, vermischte sich mit deinen Vorstellungen und Wünschen, stand vor dir in wirklichkeitsgroßen Konturen, so daß du nur einzutreten brauchtest. Es nährte deine Träume - ungezählte Träume des Knaben wie auch, später, des Erwachsenen. Nicht das Haus an sich, nicht die Form gewordene Materie aus


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Stein und Mörtel übte den Zauber aus. Sondern der Mensch, der in diesen Räumen gelebt und Bücher geschrieben hatte und der hier, in einem dieser Zimmer, hinter den hellen Wänden, sein Leben ausgehaucht hatte: der Schriftsteller Karl May, der Romancier, der alte Mann mit der großen kindlichen Seele.

Immer wieder, wenn du träumst, stehst du vor diesem Haus in Radebeul. Die Straßenbahn führt dich von Dresden her. Ein Frühsommertag, die Luft ist still, Flieder duftet. Vor dir eine sonnenbeglänzte Allee. Blühende Gärten. Weißschimmernde Villen. Diese Straßen ist auch er gegangen. Im Sonnenschein oben die Hänge, wo Weinstöcke in Reih und Glied stehen, das ist wohl die Lößnitz. Dann muß unterhalb davon der "liebe, schöne Lößnitzgrund" liegen, wo er mit seinem Verleger Fehsenfeld einkehrte.

Mittagsstille. Kein Mensch ist zu sehen, den du fragen könntest. Sonderbar. So mußt du dich auf Gespür und Gefühl verlassen. Wie von selbst erschließt sich dir der Weg durch die menschenleere Stadt, vorbei an prangenden Gärten. Ein Gittertor, über das sich ein kunstvoll verzierter, schmiedeeiserner Bogen spannt: du wendest den Blick empor zu den glänzenden Lettern an dem Fries über dem Fenster. Und du weißt, daß du davorstehst.

Du zögerst, hineinzugehen. Was wird dich im Innern erwarten? Auf dem Flur wird eine mächtige Elchschaufel dir entgegenstarren. Waffen an den Wänden, indianischer, türkischer, arabischer Herkunft. Ein Mädchen, in Schwarz gekleidet, mit weißer Schürze, mit Spitzenhäubchen im Haar, wird dich in das Empfangszimmer geleiten. Hier herrscht entrücktes Dämmerlicht. Aus dem Hintergrund tritt das riesige schwarzweiße Gemälde hervor, eine visonäre Lichtschattengestalt: der Chodem. Alles ist Traum, surreal. Gegenüber auf dem zierlichen Schrank das Modell einer Sphinx, die seine Züge trägt. Gründerzeit ist dieser Salon, die hier abgebildete Kultur, die samtenen Vorhänge, der Plüsch. Ein wunderlicher Mann, der hier lebte, aus diesem Mittelpunkt Reisen in das Reich des silbernen Löwen unternahm und von hier aus auf die Suche ging nach dem Land Dschinnistan.


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Warum zögerst du noch immer? Warum verharrst du noch vor der Gartenpforte mit dem schöngeschwungenen schmiedeeisernen Himmelsbogen? Geh nur hinein. Geh nur die Stufen hinauf, neun Stufen bis zur Tür, bis zum Glockenzug. Befiehl deinen Füßen zu gehen. Warum gehorchen die Muskeln so schwer? Und obgleich sie dich nun forttragen, in lähmender Bewegung, auf den Eingang, die Treppe zu, bleibt der Abstand dorthin unverändert - nein, wird größer mit jedem Schritt! Geh nur hinein, sagt die Stimme. Sie narrt dich: Geh nur, geh nur ...

II

Karl May erwarb und bezog das Haus Kirchstraße 5 in Radebeul im Winter 1895/96. Wir kennen es, sein Inneres, aus Berichten, die Besucher darüber anfertigten. Wir kennen es aus der autobiografischen Skizze "Freuden und Leiden eines Vielgelesenen", die im Oktober/November 1896 im "Deutschen Hausschatz", Regensburg, erschien und der etliche Fotografien von Adolf Nunwarz beigegeben waren. Hier gab es Zusammenkünfte mit Künstlern, Journalisten, Verlegern - kleine Gesellschaften, kleine Gartenfeste. Hier verbrachte Karl May sechzehn Jahre seines Lebens, die ihn als Mensch und Künstler prägten. Hier starb er.

In den Sommerferien 1944 wollte ich nach Radebeul fahren. Der Fünfzehnjährige hielt den Brief von Klara May, der Witwe Karl Mays, in den Händen, die Einladung, zu kommen. Sein Herz hüpfte vor Freude. Und dann, so dicht vor dem Ziel, die Enttäuschung, das Verbot nichtkriegswichtiger Reisen. Karl May blieb Traumferne.

Erst dreiunddreißig Jahre später sollte es gelingen, wenigstens einen Fuß in das Haus zu setzen. Immer hat die Wirklichkeit etwas Ernüchterndes, aber wie ernüchternd wirkte erst die des Jahres 1977! Eine düstere, vom Verfall gezeichnete Fassade, alle Erinnerungen an Karl May wie böse Omen getilgt, der Zutritt zur "Villa Shatterhand" verwehrt. Doch es traf sich, daß die Haustür gerade offen stand; eigentlich wiederum kein Wunder, denn mit


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solchen "Zufällen" arbeiten ja alle seine Geschichten. Etwas beklommen, traumwandelnd, treten wir ein in das verbotene Reich. Dies ist der Flur, dessen jetzt leere Wände einst mit Jagd- und Kriegsgerät aus fernen Ländern dicht geschmückt waren. Große schwarzweiße Fliesen bedecken den Boden. Unsere zögernd-vorsichtigen Schritte klingen, von keinem Teppich gedämpft, viel zu laut. Unter einem Mauerbogen führt die Treppe hinauf. Dort oben, wo ein damenhaft schmaler Schreibtisch stand und die Wände Zeichnungen Sascha Schneiders schmückten, zwischen Büchern, Landkarten und arabischem Interieur, dort mußte Dschinnistan liegen. Aber bevor wir uns weiter umsehen können, werden wir von einem Wassereimer tragenden, mit Schrubber und Scheuertuch bewaffneten dienstbaren Geist auf Sächsisch unwirsch zurechtgewiesen. Zum Museum ginge es hinten durch den Garten. In diesem Haus hätten Fremde nichts zu suchen. Daß wir eigens aus Westdeutschland gekommen sind, um das frühere Wohnhaus des Schriftstellers Karl May zu besichtigen, vermag die Frau nicht im geringsten umzustimmen. Hier sei nichts mehr zusehen. Schrubber und Eimer drängen uns hinaus.

Ach, was weiß die gute Frau, ob es hier nichts mehr zu sehen gibt - für Augen wie die unseren.

III

Doch auch im Radebeul des Parteistaates vollzog sich überraschend ein Gesinnungswandel. Hell und licht, die Fassade ausgebessert und gestrichen, die stumpfgewordenen Buchstaben an der Hauswand aufpoliert, daß sie wieder glänzten, so empfing nach 1985 die "Villa Shatterhand" als Teil des neuen Karl-May-Museums den Strom der Besucher - und kein Schrubber, kein Wassereimer weist mehr die Tür. Die unteren Räume laden ein, Karl Mays"Leben und Werk" kennenzulernen.

Ein zweites Mal stehen wir im Hausflur auf den großgemusterten Fliesen vor der Treppe, die hinaufführt in das entlegene Reich Dschinnistan. Wir zögern wie in frommer Scheu. Vielleicht tritt


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er uns gleich entgegen. Von den Fotos ist uns der alte Mann wohlvertraut, sein Gesicht, seine Gestalt, sein Habitus. Das gütige Greisenantlitz lächelt uns freundlich zu. Die altersschwachen Augen blinzeln mühsam. Aus der hochgewölbten Stirn ist das weiße, etwas borstige Haar weit zurückgekämmt, es fällt auf den Kragen des dunklen Jacketts. Auf der Krawatte unter dem Kinn steckt der Skarabäus, der ins Land der Pharaonen weist - in ferne Welt und ferne Zeit. Langsam, gedankenvoll steigen wir die Stufen hinauf.

Der obere Flur wirkt nüchtern und kühl. Ein Rechtsanwalt, ein Arzt könnte hier seine Praxisräume haben. Einst bedeckten Waffen und Gehörne in exotischer Vielfalt diese Wände, Erinnerungen an erlebte und ersonnene Reisen. Gegenüber der Treppe die frühere Bibliothek, jetzt Konferenzraum. Wir gehen hinein. Ein langer Tisch, Stühle. Die Wände sehr grün und kahl. Die Bücherregale, die ringsherum bis zur Decke reichten, stehen in Bamberg. Wir blicken uns um; das, was unsere Augen suchen, läßt sich mit Worten kaum erklären. Seele, würde Karl May sagen. Das ist es wohl. Auch ein Haus hat eine Seele. Ein Haus, so sagt Ina Seidel, ist ein geheimnisvoll atmendes, schicksalsmächtiges Wesen, das von einem verborgenen Herzen durchpulst wird. Es lebt weiter in den Mauern, auch wenn die Menschen, die darin wohnten, nicht mehr sind.

Die Tür zum Nachbarzimmer wird geöffnet; wir sollen einen Blick hineinwerfen. Hurtig klappernde Schreibmaschinen, Büroatmosphäre. Hier hat er nun gesessen, Tage und Nächte hindurch, hat seine Gedanken auf Reisen geschickt, zuletzt in utopische Welten, in seltsame Märchenlandschaften, und hat sie uns beschrieben, nicht mehr in dem schnellen, mühelosen Fluß der früheren Reiseerzählungen, sondern im bedächtigen Duktus seines Spätwerks. Man zeigt uns, wo sein Schreibtisch gestanden hat. Seitlich vom Fenster, das hinter dem Balkon mit den rankenden Glyzinien lag. An der Wand, im Rücken des Schreibenden, hing Sascha Schneiders Karton "Am Jenseits". Auch dieser kleine Mahagonischreibtisch, von dem er sich nie trennen mochte, mußte nach Bamberg wandern, als der Prophet nichts mehr galt in seiner Heimat.


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Noch einmal umfängt uns ein Raum, klein und schmal, vom Arbeitszimmer nur drei Schritte über den Flur. Das Fenster geht zum Garten hinaus. In einem Bett aus einfachem Holz, wie es einst im Weberhaus von Ernstthal gestanden haben mag, soll er gestorben sein, in dieser Kammer neben dem Treppenaufgang. Die Hausskizze verwendet für sie die Bezeichnung "Cabinet". Leitungen an den Wänden, dicke Kabel für Starkstrom, Schalter, Alarmanlage, Geräte, alles, was man heute unter Haustechnik versteht; einzelne abgestellte Gegenstände. Es fällt schwer, sich vorzustellen, daß dies der Ort seines Sterbelagers gewesen sein soll. Ach, an deinem Schreibtisch, unter dem Bild des Jenseits, hätte es dich ereilen sollen, es wäre einem Mann wie dir angemessener gewesen. Dort hätte der Todesengel zu dir treten und dir die Feder aus der Hand nehmen können. Ein Tod, wie wohl jeder Schriftsteller ihn sich wünscht. -

Wir wenden uns zum Abschied. Doch läßt Karl May uns noch nicht ganz los. Unsere Schritte führen hinaus zur Serkowitzer Straße, wo der Friedhof von Radebeul liegt. Dort ist seine Ruhestätte. Ein kleiner griechischer Tempel mit ionischen Säulen erhebt sich über der Gruft. Mag er getrost unter klassischen Säulen ruhen, von klassischem Maß sind Partikel seines breitgefächerten Werkes immerhin auch. Das hat die Nachwelt längst entschieden.


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