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CLAUS ROXIN

Das zweite Jahrbuch



Das zweite Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft, das hiermit vorgelegt wird, zeigt die Pläne, die wir uns vorgesetzt haben, im Stadium rascher Verwirklichung. Das gilt zunächst für die biographische Forschung. Wir haben uns diesmal vor allem den Zeiträumen im Leben Mays zugewandt, die - bis in die Tagespresse hinein - seit Jahrzehnten im Mittelpunkt der Erörterung stehen: der Periode seiner Straftaten und den Reisen Karl Mays.

Zu den frühen Delikten, die Mays Leben bis ins Alter überschattet und in seinem Werk tiefe Spuren hinterlassen haben, liefert Klaus Hoffmann erstmals eine aus der zeitgenössischen Presse erarbeitete Dokumentation, die der weiteren Beschäftigung mit diesem Lebensabschnitt eine reale Grundlage geben kann. In meinen »Vorläufigen Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays« habe ich versucht, die nüchternen Fakten im Zusammenhang mit dem späteren Leben Mays und seiner schriftstellerischen Arbeit so ausführlich zu interpretieren, wie es der augenblickliche Forschungsstand zuläßt. Wenn die zuständigen Einzelwissenschaften in diesen »Grundriß« ihre Forschungsergebnisse eingetragen haben, wird sichtbar werden, daß wir in Karl May einen jener seltenen und großen »Modellfälle« vor uns haben, die Psychologie, Psychiatrie, Soziologie, Pädagogik und Literaturwissenschaft gleichermaßen nahe angehen. Es können, wie May selbst über sein Werk schrieb, als er im Alter Einsicht in die Bedingungen seines Schaffens gewonnen hatte, Jahrhunderte vergehen, ehe eine Wiederholung möglich ist. Ja, vielleicht treffen sich die äußeren und inneren Umstände nie so wieder! (an Rudolf Bernstein, 23. 7. 1907).

Aus der Feder Mays legen wir ergänzend Aufzeichnungen aus der Haftzeit vor. Abgesehen von den beiden Gedichten (»Kennst du die


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Nacht« und »Weihnachtsabend«), die für Mays späteres Werk eine fast leitmotivische Bedeutung gewonnen haben, handelt es sich um ungestaltetes, fragmentarisches Material, das aber für die geistige, seelische und literarische Entwicklung des jungen May zahlreiche charakteristische Einzelheiten bietet, die der Forschung zugänglich gemacht werden müssen. Namentlich die unter der Überschrift »Ange et Diable« abgedruckten Notizen Mays, die schon dem Gericht in Mittweida (1870) vorlagen, stützen die These, daß rebellischer Trotz gegen jede Autorität die Straftaten des jungen Mannes wesentlich mitbestimmt hat. Wenn May hier die Dogmen unsrer Bibellehre umstoßen will, Kirchen, Pagoden, Synagogen verschwinden sieht und als der aufgeklärte Mensch seinen Gott in sich selbst fühlt, so zeigen diese frühen, an Feuerbach gemahnenden Denkbemühungen, wie viel nach den Maßstäben jener Zeit latentes revolutionäres Potential in May bereit lag.

Zum Thema der sagenumwobenen Reisen Karl Mays bringt Hainer Plaul einen auf authentische Dokumente gestützten Bericht über Mays Aufenthalt zwischen Ende 1862 und Ende 1864. Es ist ihm als erstem gelungen, in diesen bis heute umrätselten »dunklen Zeitraum« (vgl. Bd. 34, »Ich«, 271968, 333) so viel Licht zu bringen, daß sich die so verlockende Frühreisen-These schwerlich länger wird aufrechterhalten lassen. Hans Wollschläger und Ekkehard Bartsch haben Karl Mays für sein späteres Werk so folgenreiche Orientreise mit größter Akribie rekonstruiert und zahlreiche Fehler der älteren Überlieferung richtigstellen können. Beide Arbeiten, die auf jahrelangen Quellenstudien beruhen, sind Musterbeispiele exakter biographischer Forschung.

Zur Wirkungsgeschichte Karl Mays veröffentlichen wir im Anschluß an die umfassende Wien-Dokumentation des Jahrbuches 1970 weitere Beiträge der österreichischen Frühexpressionisten über Karl May sowie zwei erläuternde Arbeiten Franz Cornaros. Es sollte unserer Literaturgeschichtsschreibung und unseren Lehrern doch zu denken geben, daß, während ein Ferdinand Avenarius zur Ächtung Karl Mays aufrief und dessen Erfolg »zum Halbtotschämen für unser Volk« fand (Kunstwart, 1910, 183), die Avantgarde jener Zeit May liebte, daß Männer wie der große Ehrenstein, wie Berthold Viertel und eine Zeitschrift vom überragenden Range des »Brenner« sich für May einsetzten. Sollte es nicht heute - aus dem Abstand von 60 Jahren - an der Zeit sein zu


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überlegen, ob die »Bedenker des Wortes« in diesem Falle vielleicht ein besseres Urteil besaßen als der Gründer des Dürerbundes?

Die Bemühungen um die Werkinterpretation sind in diesem Jahrbuch sämtlichen Schaffensperioden Mays gewidmet. Ernst Bloch, der schon vor mehr als 40 Jahren Karl May einen »der besten deutschen Erzähler« nannte, hat uns eine noch ältere, seither nicht wieder gedruckte Arbeit über die »Urfarbe des Traums« in den Abenteuererzählungen Mays zur Verfügung gestellt. Blochs Neigung zu Karl May, die sich bis heute erhalten hat, ist mehr als eine Jugenderinnerung; sie wird durch den utopisch-revolutionären Impuls seines philosophischen Werkes legitimiert: »Träumt also Kolportage immer, so träumt sie doch immerhin Revolution, Glanz dahinter.« Wie richtig das gesehen war, zeigt Heinz Stoltes Untersuchung über »Waldröschen«, das »galaktische Ungeheuer« eines Romans. Mays Kolportageromane, die von ihm später verstoßenen Werke seines Anfangs, spiegeln wirklich mit der ganz kunstlosen, barbarischen Kraft »reißender Märchen« Anpassung und Widerstand, Ergebung, Aufruhr und erträumten Triumph der Unterschicht des beginnenden Industriezeitalters wie kaum ein anderes aus der literarischen Subkultur jener Zeit erhaltenes Zeugnis.

Mays populärste Werke freilich werden wohl immer die »Reiseerzählungen« bleiben. Ihnen vor allem gilt der große Essay Wolf-Dieter Bachs über die »Fluchtlandschaften«. Bach versucht hier eine neue Methode literarisch-tiefenpsychologischer Interpretation, die dem Verständniswillen unserer Leser mit Nachdruck anempfohlen sei. Man mag über Einzelheiten streiten können; im ganzen scheint mir die Arbeit Bachs in ihrem Bereiche bahnbrechend. Denn die von ihm verwendete Betrachtungsweise gestattet es, die Schichten des individuellen Unterbewußten und vor allem die archetypisch-mythischen Inhalte der Mayschen Phantasie in geradezu frappierender Weise sichtbar zu machen. Ich bin überzeugt, daß hier ein Zugang in den faszinierendsten Bezirk der dichterischen Kraft Mays geöffnet und ein Tor aufgestoßen wird, das auf ein unabsehbares Feld weiterer Forschungen führen kann. Denn in der Fähigkeit zur Gestaltung individueller und kollektiver seelischer Symbolgehalte lag wohl überhaupt die spezifische Genialität der im übrigen lange Zeit künstlerisch wenig entwickelten literarischen Begabung Mays. May selbst hat erstaunlicherweise im Alter erkannt,


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welche Bewandtnis es mit ihm hatte. Wenn er schrieb: In meinen Büchern lebt eine ganz, ganz eigene Seelenwelt, und wem diese entgangen ist, der hat sie umsonst gelesen (Brief an Heinrich Kirsch vom 4. 4. 1901), wenn er die Groß(e)Mutter, Marah Durimeh, deren Namen Bach in so tiefsinniger anagrammatischer Verschlüsselung gedeutet hat, als Herrscherin über das Reich der Menschheitsseele einsetzte, jener Seele, von der er bekannte, daß er nach ihr mit verlangender Sehnsucht suche (Erl. zu »Babel und Bibel«, KMJB 1921, 53), dann war er seinen Interpreten um Jahrzehnte voraus. Es wurde nachgerade Zeit, ihn einzuholen.

Zur Deutung des Alterswerkes bringen wir den zweiten Teil der Arbeit von Ekkehard Koch über »Winnetou IV«. Der Roman hat immer im Schatten des »Silberlöwen« und des »Mir von Dschinnistan« gestanden. Kochs Studie zeigt aber, daß er größere und selbständige Beachtung verdient. Wie in »Winnetou IV« die Biographie Mays in zweifacher Spiegelung, seine »Lebensreise« als Mensch und als Schriftsteller, mit der realen Amerikareise des Autors und dem Grundmuster der naiven »Reiseerzählung« einer früheren Schaffensepoche verknüpft wird und wie diese vierfach verflochtenen Motivstränge mit der Entwicklung des indianischen Volksschicksals und der die Zukunft der ganzen Menschheit umgreifenden kulturkritisch-pazifistischen Erlösungsmetaphysik Mays zu einer mehrdimensionalen Fabel verarbeitet werden, das ist eine Leistung hohen Kunstverstandes, die größerer Ehren wert ist. In den Zusammenhang des Alterswerkes gehört auch Hansotto Hatzigs Studie über »Bertha von Suttner und Karl May«. Sie zeigt noch einmal im biographischen Kontext, wo May stand: Sein »Edelmensch«, dieser uns heute so fremd klingende Terminus, kommt nicht vom »Übermenschen« Nietzsches her, und er ist erst recht nicht, wie von Ahnungslosen immer wieder kolportiert wird, eine Ausgeburt jenes berüchtigten »Wesens«, an dem die Welt »genesen« sollte; er hat seinen Ursprung in der Weltfriedensbewegung, zu deren Pionieren auch May gehört, und dessen sollten wir mit Achtung gedenken.

Ich danke allen Mitarbeitern, vor allem aber meinen Freunden Ekkehard Bartsch und Hans Wollschläger, die den größten Teil der Arbeit an diesem Buch getragen haben. Es hätte ohne ihr aufopferndes Mühen in der vorliegenden Form nicht entstehen können.


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