Ein neuer „Karl-May-Roman“
von Hartmut Wörner
Auch im 21. Jahrhundert fordert die schillernde Persönlichkeit des einstigen Bestsellerautors Karl May zur literarischen Auseinandersetzung heraus. In diesem Bücherherbst 2018 hat der bekannte Journalist und Buchautor Philipp Schwenke in einem dickleibigen ‚Karl-May-Roman‘ eine neue Variante der Befassung mit dem Phänomen Karl May geliefert. Inspiration der auf eine breitere Leserschaft zugeschnittenen Erzählung ist die legendäre und einzige Orientreise Mays in den Jahren 1899/1900. Schwenkes fiktiver Hauptdarsteller Karl, Erfolgsschriftsteller aus Radebeul, macht sich im April 1899 auf den Weg in die Region, die ein zentraler Handlungsraum seiner – für ihn ständig im Kopf präsenten – Reiseerzählungen ist. Schwenkes Karl sieht sich dabei einer Gratwanderung zwischen extrem auseinanderfallender äußerer und innerer Realität ausgesetzt; kein Wunder, denn, so der zeitgenössische auktoriale Erzähler von Schwenkes Roman: „Karl erschuf Wirklichkeit, indem er sie niederschrieb, Gedanken wurden wahr, wenn er sie in Worte fasste.“ So ist der fiktive Karl May in dem Buch eine tragische, aber keine lächerliche Figur. Der nun real reisende deutsche Reiseschriftsteller, dessen Auftreten bereits auf dem Dampfer ‚Preussen‘ zwischen Genua und Port Said für eine Polarisierung der Passagiere der ersten Klasse in May-Fans und May-Gegner sorgt, ist ein intelligenter, wohlwollender und sympathischer Mann. Angestoßen durch den Verlust seines bürgerlichen Lehrerberufs durch einen Diebstahl, der keiner war, ist er aber seit langem tief in sich selbst und seine literarische Phantasiewelt verstrickt.
Schwenkes Karl ist kein berechnender Lügner und Geschäftsmann, sondern ein ebenso begabter wie mit menschlichen Schwächen gesegneter Hauptdarsteller, der sich im Rahmen seiner Möglichkeiten ehrlich bemüht, es allen, auch seiner mit ihm nicht mehr harmonierenden Ehefrau Emma, irgendwie recht zu machen. Karl, der es gewöhnt war, dass ihm von der Öffentlichkeit seine Phantasien als Realität ‚abgekauft‘ wurden, erlebt nun eine äußerst schmerzliche Konfrontation mit der äußeren Wahrheit. Verfolgt von einem investigativen Journalisten, geplagt von Hitze, peinlichen körperlichen Folgeerscheinungen orientalischer Speisen und Getränke und behindert durch die totale Abwesenheit der von ihm behaupteten umfassenden Sprachkenntnisse kämpft er sich mit dem Baedecker in der Hand oder im Schlepptau von Mitreisenden wacker durch einen ihm fremden realen Orient. Eine Stütze ist ihm dabei die Arbeit an seinen Gedichten und die nach und nach entstehende Ambition, persönlich und literarisch neue, edlere Wege zu gehen.
Schwenke erschafft in seinem Roman natürlich einen fiktiven Karl. Man hat jedoch durchaus den Eindruck, dass er so ähnlich gewesen sein könnte, der reale Karl May, dessen Charakter bis heute zu Spekulationen Anlass gibt. Das liegt beileibe nicht nur an der äußerst soliden Fundierung der Handlung mit wissenschaftlich ermittelten Fakten zur Biographie Mays – der Autor bezieht sich in seiner Danksagung auf die Jahrbücher der KMG sowie die Karl-May-Chronik von Sudhoff und Steinmetz -, sondern an einer, wenn auch immer journalistisch reflektierten, fast liebevollen Zuwendung Schwenkes zu ‚seinem‘ Karl, in dessen Figur sich exemplarisch das menschliche Ringen um die Herstellung einer Kohärenz zwischen Innen- und Außenwelt spiegelt.
Ein Buch somit, dem man eine breite Leserschaft wünscht, das aber auch für den May-Spezialisten sehr lesenswert ist.
Philipp Schwenke: Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste. Ein Karl-May-Roman. Kiepenheuer&Witsch. Köln. 608 Seiten. Hardcover. ISBN 978-3-462-05107-0. Preis: 23,00€