Die Kahl-Broschüre hat eine lange Vorgeschichte, die damit begann, dass Karl May 1904 Rudolf Lebius (1868–1946), dem Verleger der „Sachsenstimme“, trotz erpresserischer Versuche kein Darlehen geben wollte, was ihm die erbitterte Feindschaft des Lebius zuzog. Nach seinem Dresdner Bankrott tauchte Lebius als Sekretär der „gelben Gewerkschaften“ in Berlin wieder auf, wo er im ständigen Streit mit den sozialdemokratischen Blättern „Vorwärts“ und „Metallarbeiterzeitung“ lag, der zu zahlreichen Beleidigungsprozessen führte. Für einige dieser Prozesse wurde Karl May als Zeuge benannt. Lebius wollte die Richter beeinflussen, um die Glaubwürdigkeit der Aussagen Karl Mays über die Machenschaften des Lebius in Dresden zu bestreiten. Dazu sollte eine Broschüre verfasst werden, die Karl May als Lügner und Verbrecher darstellte. Um die Wirkung der Broschüre zu gewährleisten, durfte der Verfasser natürlich nicht der Beklagte Lebius selbst sein, sondern es musste ein fremder Name her. Einen solchen „Strohmann“ fand Lebius in dem jungen, unerfahrenen Friedrich Wilhelm Kahl (1887–1963), der allerdings Lebius Absichten durchschaute und die Verwendung seines Namens für die Broschüre untersagte. Am 27. April 1908 schrieb Kahl an Karl May:
Herr Lebius gab mir seinerzeit den Auftrag, ein Buch über ‚Dichtung und Verbrechen‘ zu schreiben. … Als Material aber stellte mir Herr Lebius nur Schriften über Sie – dazu hauptsächlich aus eigener Feder – zur Verfügung. … Im Laufe der Zeit kamen mir aber Bedenken, als ich gewahr wurde, daß Herr Lebius ein ganz gemeines Pamphlet gegen Sie verfaßt haben wollte. … Herr Lebius besorgte nun diese Arbeit selbst, … und versuchte durch alle möglichen Versprechungen, mich dazu zu bewegen, die Veröffentlichung dieses Manuskripts unter meinem Namen zu gestatten. Ich … schrieb … ein ausdrückliches Verbot, irgend etwas aus meiner Feder oder unter meinem Namen zu veröffentlichen.
F. W. Kahl bestätigte seine Angaben nochmals in einer eidesstattlichen Erklärung, in der es heißt:
Die Broschüre wurde ohne mein Wissen und gegen mein ausdrückliches Verbot gedruckt und in Umlauf gesetzt. … Durch folgende Äußerungen des Herrn Lebius wurde mir der wahre Zweck … bekannt: ‚Ich habe am 9. April einen Prozeß, in dem May als Zeuge auftritt. Ich habe ein Interesse daran, daß die Broschüre spätestens am 1. April herauskommt. Der Richter wird sie alsdann lesen und dadurch beeinflußt werden. … Karl May muß durch diese Broschüre totgemacht werden.‘ … …
Zu der Broschüre selbst habe ich noch zu bemerken, daß Herr Lebius nur diesen ganz geringen Teil meines Manuskripts benutzt hat, daß er diesen mit zahlreichen Zusätzen versehen, und daß er seine Ausführungen dazu setzte, um das Ganze widerrechtlich unter meinem Namen herauszugeben.
Diese Aussagen von Friedrich Wilhelm Kahl belegen: Auch wenn auf der Titelseite „F. W. Kahl-Basel“ steht: Der Autor der Broschüre ist Rudolf Lebius.
(Einzelheiten, u.a. vollständiger Brief und eidesstattliche Erklärung, siehe im Zeitungsarchiv der KMG: Metallarbeiter-Zeitung, Stuttgart. Nr. 13, März 1909, S. 98–100. Online unter A-799)
H.-J. Düsing, Juli 2018
Die Broschüre im Volltext (PDF)