von Jürgen Seul
Im Karl-May-Verlag erschien Ende Juli 2018 eine Anthologie der besonderen Art: »Märchen und Visionen« – eine Zusammenstellung bild- und wortgewaltiger Texte mit gleichnishaften, teils visionären Motiven aus Karl Mays Alterswerk.
Herausgegeben wird die Textsammlung von Hartmut Wörner, der einen klangvollen Namen als Karl-May-Forscher wie auch als verdienstvoller Geschäftsführer der KMG genießt. Bereits im Vorjahr präsentierte Wörner mit »Das Ross der Himmelsphantasie« (Bamberg/Radebeul 2017) eine erste Anthologie aus dem Spätwerk, der nunmehr eine Edition folgt, die die Bedeutung des Märchens für Mays Gesamtwerk, aber vor allem für die symbolistischen Romane und Novellen der späten Jahre hervorhebt. Von der Bedeutung des Märchens zeugen u.a. Mays Ausführungen in seinem Vortrag Sitara, das Land der Menschheitsseele, ein orientalisches Märchen vom 8. Dezember 1909 in Augsburg. Hierauf wird nicht nur einleitend zum besseren Verständnis hingewiesen; vielmehr bildet das im Vortrag erstmals erzählte Märchen von Sitara (in der Fassung von Mein Leben und Streben) den Auftakt der Textsammlung.
Das Besondere an dieser neuen Anthologie nun ist der Dialog der May‘schen Texte mit der moderner Fotokunst à la Henri Cartier-Bresson des Fotografen, Publizisten und Übersetzers Timm Stütz, der mit seinen Aufnahmen die symbolistisch-märchenhaften Texte des Hakawati (Märchenerzählers) Karl May untermalt und auf diese Weise einen ganz neuen Blick auf den »letzten Großmystiker« ermöglicht. Timm Stütz ist der Großneffe von Adalbert Stütz, der seine Kenntnisse von den indianischen Mundarten als Lektor und Autor in der 1910er bis 1930er Jahren im Karl-May-Verlag eingebracht hatte. Timm Stütz trägt mit fast 40 Landschafts- und Personenaufnahmen aus der Zeit zwischen 1981 bis 2016, mit Motiven aus Österreich, Dresden, Peru, Krakau, Polen, Stettin, Südtirol, Vatikan, Katowice u.a. dazu bei, ein ästhetisch anspruchsvolles Märchenbuch für Erwachsene zu schaffen, das Mays Visionen und Weltsicht noch einmal ganz ungewohnt und inspirierend neu präsentiert.
Jedem der elf May’schen Texte sind einzelne Fotografien zugeordnet. So wird zum Beispiel die nächtliche Vision des Münedschi von dem Engel Ben Nur aus Am Jenseits geschildert und erfährt u.a. eine wunderbar-mystische Illustrierung durch eine – wie aus einer anderen Welt stammenden – Aufnahme vom Machu Picchu aus dem Jahr 2008.
Die Fotografien von Stütz stellen jedoch kein simples Beiwerk zu Mays Texten dar, sondern besitzen eine künstlerische Eigenständigkeit, die den Leser auf vielfältige Weise oftmals unerwartete Parallelen und Verbindungen entdecken lassen. Damit unterscheidet sich das Buch auch von der Publikation »Karl May. Die Jagdgründe der Phantasie. Foto-Inszenierungen von Thomas Range und Peter Krauskopf. Kolorierungen von Heike Wahnbeck« (Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft Nr. 106/1995). Stütz’s Bilder stellen keine (künstlich) arrangierten Installationen dar. Ihre Querverbindungen zu May ergeben sich durch die Assoziationskraft und Phantasie des Spätwerklesers.
Mit »Märchen und Visionen« erhält der Karl-May-Freund ein empfehlenswertes Buch, das als Geschenk für Freunde und Bekannte geeignet ist, die man für May interessieren möchte.
Karl May: Märchen und Visionen. Mit Fotografien von Timm Stütz. Herausgegeben von Hartmut Wörner. Hardcover. Karl-May-Verlag. 192 Seiten. ISBN: 978-3-7802-3088-1. Preis: 20,00€
erschienen im Karl-May-Verlag